Wenn die Situation nicht so bedrohlich wäre für den Whistleblower Edward Snowden, dann könnte man über diese neuerliche Schikane der US-Regierung nur lachen: Zum Verkaufsstart der Autobiografie „Permanent Record“ in der vergangenen Woche hat das US-Justizministerium Klage gegen Snowden eingereicht. Man wolle die Veröffentlichung des Buches damit nicht verhindern, stellte Washington klar. Aber der Autor habe mit dem Buch gegen Vertraulichkeitsvereinbarungen mit den Geheimdiensten CIA und NSA verstoßen, die er vor mehreren Jahren unterzeichnet habe. Diese schreiben unter anderem vor, dass er ein Manuskript vor der Veröffentlichung den Diensten zur Prüfung vorlegen müsse. Da Snowden dies nicht getan habe, will die US-Regierung wenigstens auf die Einnahmen zugreifen, die der Autor mit seinem Buch erzielen werde.
Zeigt hier ein System, dessen Überwachungswahn der Whistleblower auf Kosten seiner persönlichen Freiheit bloßgestellt hat, eine bürokratische Fratze? Oder agieren die USA in ihrem Vorgehen gegen Snowden, dem wegen Spionage in seiner Heimat die Todesstrafe droht, wie ein Rechtsstaat, der zum Schutz der Sicherheit seiner Bürger Gesetzesverstöße ahnden muss?
Edward Snowden: Held oder Verräter?
Die Antwort auf diese Fragen spaltet auch hierzulande Bürger und Politiker. Für das eine Lager ist Snowden Held und Opfer, die anderen sehen in ihm vor allem einen Verräter und Straftäter. Die Bundesregierung vermeidet in dieser Diskussion seit Jahren eine Festlegung. Man stellt lediglich klar, keinen Grund dafür erkennen zu können, dem seit mehr als sechs Jahren im unfreiwilligen Exil in Moskau lebenden Amerikaner politisches Asyl hierzulande anzubieten. Ein Staat kann es sich – anders als eine demokratische Gesellschaft – eben nicht leisten, Geheimnisverrat zu goutieren. Und Geheimnisse hat Snowden verraten, daraus macht er keinen Hehl. In seiner Biografie verteidigt er dies und spricht von seiner „moralische(n) Pflicht, das Gesetz zu brechen“.
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Schließlich habe er Journalisten nur solche Dokumente übergeben, die einen „durch die US-Regierung begangenen Rechtsbruch belegten“. Denn nicht der Regierung habe er einen Diensteid geschworen, schreibt Snowden, „sondern der Öffentlichkeit, um die Verfassung, gegen deren zivile Freiheiten man jetzt so eklatant verstoßen hatte, zu schützen und zu verteidigen“.
Edward Snowden scheiterte mit seinem Ziel
Seine Enthüllungen über die verborgenen Mechanismen eines Systems der nahezu weltumspannenden Überwachung von Menschen, „die per Definition Unschuldige in weitaus größerem Maße betrifft als Schuldige“, hätten nicht dazu gedient, die Regierung zu stürzen oder die Geheimdienste zu zerstören. Vielmehr sei es ihm um eine Einhegung des Staates gegangen: „Die Regierung und Geheimdienste müssten sich wieder an den Idealen orientieren, die sie selber festgelegt hatten“, so Snowden.
Ein hehres, in seinem Buch mit nicht wenig Pathos formuliertes Ziel, mit dem der Whistleblower aber letztlich gescheitert ist. Zwar gab es weltweit Schlagzeilen und aufrichtige Empörung, als die Snowden-Papiere veröffentlicht wurden. Gerichte, Untersuchungskommissionen und Ausschüsse in den USA und anderen Ländern – auch in Deutschland – befassten sich mit der Datensammelwut der amerikanischen Lauschbehörde NSA und ihrer westlichen Partner von den „Five Eyes“ (USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland) bis hin zum BND. Die Konsequenz daraus war selten genug eine Einhegung der Dienste, sondern oftmals – auch hierzulande – eine Legitimierung der bis dahin rechtswidrigen Überwachungspraxis durch neue Gesetze.
Edward Snowden: Ein langer Weg der Erkenntnis
Snowdens Buch ist dennoch kein aufrührerischer Essay über die Verlogenheit westlicher Regierungen. Es ist vielmehr die sehr gut erzählte Lebensgeschichte eines Mannes, der in 36 Jahren mehr erlebt, erlitten und bewegt hat als die meisten anderen seiner Generation. Der einen langen Weg der Erkenntnis gegangen ist – bis hin zu jenem Tag im Mai 2013, an dem er zum Staatsfeind Nr. 1 wurde, weil er geheime NSA-Dokumente an Journalisten übergab.
Der 1983 geborene Snowden – sein Vater war Mitarbeiter bei der Küstenwache, seine Mutter arbeitete am Bundesbezirksgericht – wuchs in North Carolina auf. Schon früh entdeckte er seine Leidenschaft für Computer und das Programmieren. Er fing ein Informatikstudium an, brach es aber ab. Stattdessen heuerte er als 22-Jähriger bei der CIA an und erhielt von der NSA eine erste Top-Secret-Freigabe. Schon ein halbes Jahr später arbeitete er als Systemingenieur für die CIA und hatte „fast unbegrenzten Zugang zu einigen der sensibelsten Netzwerke der Welt“. Eigentlich hätte er, der keinen Berufsabschluss vorweisen konnte, überhaupt nicht beim Geheimdienst arbeiten dürfen, schreibt Snowden. Aber nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hatten die Geheimdienstbehörden bei ihrer Suche nach technischem Nachwuchs ihre eigenen Regeln gebrochen.
Der junge Computernerd machte nun Karriere. An der Botschaft in Genf arbeitete er von 2007 bis 2009 daran mit, das digitalisierte Spionagenetzwerk der diplomatischen US-Auslandsvertretungen zu modernisieren. Mit 26 war er offiziell beim Computerkonzern Dell angestellt, arbeitete aber in Wirklichkeit für die NSA, für die er zunächst nach Japan und dann nach Hawaii ging. Dort, in einem tief unter einer Ananasplantage verborgenen Tunnel aus Pearl-Harbor-Zeiten, saß er – nun getarnt als IT-Techniker der Beratungsfirma Booz Allen Hamilton – an einem NSA-Terminal mit nahezu unbegrenztem Zugang zur digitalen Kommunikation fast der gesamten Menschheit, wie Snowden schreibt. „Erst auf Hawaii, im Paradies, war ich endlich in der Lage zu verstehen, dass all meine Aufgabenbereiche ineinandergriffen wie die Zahnräder einer gewaltigen Maschine – dem System der globalen Massenüberwachung.“
Edward Snowden und der „nukleare Moment“
Der Whistleblower spricht in seinem Buch von einem „nuklearen Moment“, in dem er den staatlichen Missbrauch der digitalen Technik, aber auch seiner Arbeitskraft erkannt habe. Auf Hawaii begann Snowden, die geheimen Unterlagen der Intelligence Community (IC) zu sammeln, dem Zusammenschluss der 17 US-Nachrichtendienste. Laut Pentagon soll er von 2009 bis 2013 insgesamt rund 1,7 Millionen IC-Dokumente auf einen USB-Stick kopiert und später an Journalisten übergeben haben.
Nach der Veröffentlichung der geheimen Regierungsdokumente Anfang Juni 2013 in der Washington Post und im Guardian setzte sich Snowden nach Hongkong ab. Weil seine dortigen Anwälte glaubten, Ecuador wäre noch am ehesten bereit, ihm politisches Asyl zu gewähren, plante er, über Moskau, Havanna und Caracas nach Quito zu fliegen. Doch während des Fluges nach Moskau am 23. Juni 2013 erklärte das US-Außenministerium seinen Pass für ungültig, so dass er am Flughafen Scheremetjewo in Moskau strandete.
Das russische Angebot an Edward Snowden
Der russische Geheimdienst FSB hätte sich den Whistleblower, der ihnen da so unverhofft vom Himmel in den Schoß gefallen war, gern gegriffen. Wie Snowden in seinem Buch schreibt, warteten FSB-Mitarbeiter schon am Schalter der Ausweiskontrolle auf ihn. Sie brachten ihn in einen kleinen Konferenzraum der eleganten Business-Lounge des Flughafens, wo ein halbes Dutzend Geheimdienstler saß. Dort unterbreitete man ihm einen „Cold Pitch“, wie die Angebote an Überläufer im CIA-Jargon heißen: „Als Gegenleistung für eine Kooperation locken Gefälligkeiten aller Art – von Bargeldbündeln bis zu einer ,Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte’, die für alles Mögliche von Betrug bis Mord gilt.“ Er habe das Angebot abgelehnt und klar gestellt, dass er mit keinem Geheimdienst kooperieren werde, schreibt Snowden.
Nach seiner Absage an den FSB saß Snowden „biblische 40 Tage und 40 Nächte“ am Moskauer Flughafen fest. In dieser Zeit bat er – ergebnislos – 27 Staaten um Asyl. „Letzten Endes war der einzige Ort, der mir freundlich gesonnen war, Burger King (am Moskauer Flughafen – d.A.), wo man mir nie einen Whopper verweigerte“, scherzt der Autor in seiner Biografie. Schließlich, am 1. August 2013, gewährte ihm Russland vorläufiges Asyl, das im vergangenen Jahr noch einmal verlängert wurde und 2020 auslaufen wird.
PC-Games als Raubkopien
An diesem Punkt ist Snowden mit seiner Biografie fast am Ende angelangt. Über sein Leben in Moskau verrät er wenig. In seiner Wohnung verbringt er demnach viel Zeit vor dem Computer mit Lesen, Schreiben und Kommunizieren. Er spielt auch, muss sich aber die PC-Games als Raubkopien besorgen, da er keine Kreditkarten benutzen darf. Via Internet doziert er vor Studenten, Wissenschaftlern, Gesetzgebern und Technologen über den Schutz der Bürgerrechte im digitalen Zeitalter oder tauscht sich mit seinem europäischen Juristenteam um den Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck aus.
Wenn er sein Haus verlasse, verändere er sein Äußeres immer ein wenig, schreibt er. „Manchmal rasiere ich mich, manchmal trage ich eine andere Brille. … Ich variiere Tempo und Länge meiner Schritte und … schaue nicht dem Verkehr entgegen, wenn ich die Straße überquere, damit ich nie von einer der hier sehr verbreiteten Dashcams eines Autos erfasst werde.“ 2014 hatte ihn seine amerikanische Freundin Lindsay das erste Mal in Moskau besucht. Seit drei Jahren wohnt sie nun bei ihm, seit zwei Jahren sind die beiden verheiratet. Ein weiterer Fixpunkt in seinem Leben sei der tägliche Rapport bei seinem amerikanischen Anwalt und Vertrauten Ben Wizner. „Er geleitet mich durch die Welt, wie sie ist“, schreibt Snowden, „und lässt meine Träumereien über die Welt, wie sie sein sollte, über sich ergehen.“