Berlins Landeswahlleiterin will Neuwahl verhindern: Bürger hätten im Herbst ja länger warten können
Der Bundeswahlleiter verlangt, dass die Hälfte der Bezirke den Bundestag neu wählt. Er sieht ein „komplettes systemisches Versagen“ der Berliner Wahlorganisation.

Bundeswahlleiter Georg Thiel verlangt, dass die Bundestagswahl in sechs Berliner Bezirken wiederholt werden muss. Die Wahlfehler seien zu gravierend für ein Festhalten am aktuellen Ergebnis. Thiel sprach in der Anhörung vor dem Wahlprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages zu den Problemen bei der Bundestagswahl am 26. September in Berlin von einem „kompletten systematischen Versagen der Wahlorganisation“.
Die Wahlkreise um die es geht, sind:
75 Berlin-Mitte
76 Berlin-Pankow
77 Berlin-Reinickendorf
79 Berlin-Steglitz-Zehlendorf
80 Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf
83 Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost.
Thiel spricht von vielfachen Wahlfehlern, beispielsweise von 116 Wahl-Unterbrechungen wegen fehlender Stimmzettel. Besonders im Wahlkreis Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf sind zahlreiche Unregelmäßigkeiten dokumentiert. Nach 18:31 sei in 255 Lokalen noch gewählt worden. Er erklärte in der Anhörung auch, dass Berlin bei der Wahl im Herbst das letzte von allen Bundesländern bei der Auszählung gewesen sei.

„Wahllokale waren noch bis 21 Uhr offen“, so Thiel und Menschen gaben ihre Stimmen ab, „während im Fernsehen schon die Elefantenrunde saß“. Die „Schwere, Vielzahl und die Nichtnachweisbarkeit“ von Wahlfehlern haben Thiel davon überzeugt, dass keine andere Lösung möglich sei. „Diese Probleme gab es im Bundesgebiet noch nie“.
Zwar hat es in der Geschichte der Bundesrepublik einige Male Wahlwiederholungen gegeben, mal stritt man über falsch aufgestellte Landeslisten, mal über den Zuschnitt eines Wahlkreises. Doch nie scheiterten Stimmabgaben wie in Berlin wegen falscher oder fehlender Wahlzettel beziehungsweise zu langer Schlangen vor den Wahllokalen.
Die Anhörung im Bundestag zur verkorksten Berlin-Wahl ist großes Kino.
— Dominik Rzepka (@dominikrzepka) May 24, 2022
Die Berliner Landeswahlleitung referiert gerade, dass Wahlzettel 10 kg wiegen. Das sei ja nicht gerade wenig, um die zu transportieren.
Der Bundeswahlleiter fasst sich an den Kopf 🤦♂️ 🍿
Die Berliner Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann lehnte Thiels Einspruch hingegen in Gänze ab. Sie sieht keine ausreichenden Wahlfehler und auch keinen Korrekturbedarf bei der Wahl zum Bundestag in Berlin im letzten Herbst. Rockmann führt die Landeswahlleitung seit dem Rücktritt von Petra Michaelis. Die trat drei Tage nach der Wahl als Landeswahlleiterin ob des Desasters zurück.
Einer der zwölf Bezirkswahlleiter, der weder Namen noch Bezirk nannte, sprach davon dass ein Viertel bis ein Drittel der Wahlvorstände der einzelnen Wahllokale, sich auf Nachfragen gar nicht zurückgemeldet habe. Der Bundeswahlleiter befürchtet nun, dass auch die nächste Wahl in Berlin zum Desaster werden könnte, da bisher keinerlei Verbesserungen seit dem Herbst vorgenommen wurden.
Michael Müller begrüßt die Aufarbeitung der Wahl
Der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin und heutige Bundestagsabgeordnete Michael Müller (SPD) erklärte zur Frage der Wahlfehler: „Der Wahlausschuss schafft Transparenz, die dringend geboten ist und stärkt damit auch das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat.“ Ob es am Ende tatsächlich zu Neuwahlen in einigen Berliner Wahlkreisen kommt, wie vom Bundeswahlleiter gefordert, werde der Ausschuss dem Bundestag zur Entscheidung vorlegen.
Hanna Steinmüller, direkt gewählte Bundestagsabgeordnete der Grünen aus Mitte, sagte der Berliner Zeitung: „Ich war nicht überrascht über das Ausmaß der Vorwürfe.“ Es handele sich um ein gravierendes Problem, das aufgearbeitet werden müsse. „Um so wichtiger ist, dass Vorkehrungen für die Zukunft getroffen werden, damit sich so etwas nicht wiederholt.“
Das Berlinischste aller Szenarien wäre: einfach Nichtstun
Im konkreten Fall lassen sich grob drei mögliche Szenarien für den Umgang mit Berlins Wahlchaos auf Bundesebene skizzieren. Entweder folgt der Ausschuss und später der Bundestag den Empfehlungen des Bundeswahlleiters und lässt alle sechs Berliner Bezirke, in denen es Unregelmäßigkeiten gab, neu wählen. Das würde wohl mehr als eine Million Berliner betreffen und brächte Schwierigkeiten beim Wählerverzeichnis mit sich. Ein neues müsste her. Denn nur wenn die Wahl innerhalb von sechs Monaten wiederholt wird, darf das ursprüngliche genutzt werden.
Oder man nimmt Wahlwiederholungen nur in konkret betroffenen Wahllokalen vor. Das würde Probleme zwischen Urnenwahllokalen und Briefwahllokalen geben, da die nicht identisch sind. Zuletzt wäre es auch möglich einfach gar nichts zu tun. Damit bliebe Berlin sich zumindest treu.
Thiel stellt die Grundsatzfrage: Wie retten wir das Vertrauen in die Wahl?
Thiel aber rät davon ab, die grundsätzliche Entscheidung, ob neu oder nicht neu gewählt wird, von veränderten Wählergruppen, neuen Ergebnissen, zwischenzeitlichen Todesfällen oder sogar Doppelwahlen abhängig zu machen.
Jede Wahlwiederholung bringe da Probleme mit sich. Thiel zielt aufs Grundsätzliche: Das Vertrauen der Bürger sei durch die Wahlfehler erschüttert. Es habe zahllose Einsprüche gegeben. „Wir müssen den Bürgern das Zeichen setzen, dass wir sie ernst nehmen.“ Ansonsten könne das Vertrauen in die Demokratie irreparablen Schaden nehmen.
Innensenatorin Spranger äußert sich: „Berlin nimmt das zur Kenntnis“
„Die Bewertung im Bund nehmen wir natürlich zur Kenntnis“, sagte Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD) bei der Senatspressekonferenz am Nachmittag. Selbstverständlich würden die Situationen, die bei der Wahl aufgetreten sind, lückenlos aufgeklärt.
Die Senatorin verwies auf eine unabhängige Expertenkommission, die derzeit die Pannen untersucht und gegebenenfalls rechtliche Veränderungen empfehlen soll. Spranger stellte auch die Frage: „Behält man es bei, dass die Landeswahlleitung wirklich ehrenamtlich ist? Es bleibt ja trotzdem dabei, dass sie eine unabhängige Stelle sein muss.“
Der Bericht der Kommission soll laut Spranger „zeitnah“ vorliegen. „Ich denke, vielleicht noch vor der Sommerpause.“
Berliner Wahlleiterin: „Man hätte wählen können, wenn man gewartet hätte“
Zeitgleich wird am Dienstagnachmittag vor der Kommission im Bundestag um die Frage gestritten, ob das Wahlchaos in Berlin „mandatsrelevante“ Folgen hatte. Haben so viele Menschen wegen der Umstände nicht gewählt oder wurden gar an der Wahl gehindert, dass die Ergebnisse der Bundestagswahl beeinflusst worden sind?
Die Abgeordneten wollen die Einschätzungen des Bundeswahlleiters und der Berliner Landeswahlleitung hören - die sich bei jeder Fragerunde widersprechen. Ulrike Rockmann, die für die Berliner Landeswahlleitung vor dem Ausschuss spricht, sagt, es habe Behinderungen gegeben. Die seien aber „letztlich nicht quantifizierbar.“
Zudem sei den Berlinerinnen und Berlinern nicht das Wahlrecht genommen worden, denn: „Man hätte wählen können, wenn man gewartet hätte.“ Später fügt sie hinzu: „Das Empfinden von Wartezeiten ist sowieso so'ne Sache.“
Bundeswahlleiter Thiel bekräftigt, dass er eine Mandatsrelevanz sehe. In den sozialen Medien habe man am Wahltag verfolgt, dass vor langen Schlangen oder geschlossenen Wahllokalen gewarnt worden sei, es sei von einer hohen Dunkelziffer an Menschen auszugehen, die ihr Wahlrecht in Berlin ausüben wollten, aber aufgrund der misslichen Umstände doch darauf verzichteten.
Der Bürger habe „ein Recht auf ein valides Wahlsystem“. Aber: „Das war in Berlin am 26. September nicht gegeben.“
Luthe verlangt, dass auch das Abgeordnetenhaus neu gewählt wird
Der Spitzenkandidat der Freien Wähler bei der Abgeordnetenhauswahl, Marcel Luthe, verlangt, dass auch das Abgeordnetenhaus neu gewählt werden muss. Denn: „Noch stärker als die Bundestagswahl war wegen der kleineren Wahlkreise natürlich die Abgeordnetenhauswahl betroffen.“
Luthe hatte bereits im Oktober 2021 Einspruch gegen die Wahl eingelegt und dabei von „systematischem Organisationsversagen der SPD-geführten Innenverwaltung“ gesprochen. Er klagte auch erfolgreich auf Herausgabe der Dokumentation aus Wahllokalen.
Luthe folgert jetzt, dass das aktuelle 19. Abgeordnetenhaus keinen Bestand haben könne und durch den Verfassungsgerichtshof wie beantragt aufzulösen sei. Bis zu einer Wahlwiederholung solle dann das 18. Abgeordnetenhaus wieder zusammentreten - und einen Senat bestimmen, „der in der Lage ist, eine Wahl auch halbwegs demokratisch durchzuführen“.
Direkt nach der Wahl legte Thiel schon Einspruch ein
Schon im November hatte Thiel Einspruch gegen die Wahl in den genannten Bezirken eingelegt. Seine Begründung: „Aufgrund der Häufung und Schwere von einzelnen Wahlfehlern habe ich Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag in sechs Berliner Wahlkreisen eingelegt. Ausschlaggebend für diese Entscheidung war auch eine mögliche Mandatsrelevanz. Zudem waren die Fehler organisatorisch vermeidbar. Ich habe die Berliner Landeswahlleitung deshalb darum gebeten, möglichst frühzeitig umfassende Maßnahmen zu ergreifen, um in Zukunft Wahlfehler zu vermeiden“, so Bundeswahlleiter Thiel.
Köln fand Bombe nahe Wahllokal und zählte trotzdem schneller als Berlin
Thiel wies auch daraufhin, dass in anderen Stadtstaaten und Großstädten wie Hamburg, München oder Köln keine derartigen Probleme auftraten. In Köln sei am Wahlsonntag sogar eine Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt und entschärft worden, weshalb Wahllokale über Stunden schließen mussten.
Dennoch habe es auch dort nicht annähernd so große Probleme wie in Berlin gegeben. „Wir sind hier in der bundesdeutschen Hauptstadt eines zivilisierten Landes und doch klappt es nicht“, monierte Thiel. Die damalige Landeswahlleiterin Michaelis, habe ihm vor der Wahl wiederholt versichert, so Thiel, dass alles gut vorbereitet sei. Sie trat zurück, als das Desaster immer offensichtlicher wurde.

„Wieso klappt es überall in Deutschland, nur nicht in Berlin?“
Deren damalige Stellvertreterin Ulrike Rockmann aus der Innenverwaltung versuchte immer wieder auf die besonderen Umstände der Wahl mit mehreren Wahlgängen und dem gleichzeitig stattfindenden Marathon hinzuweisen. Da könne es eben Verzögerungen geben.
Thiel ließ das jedoch nicht gelten. Denn diese Herausforderungen seien „alle vorhersehbar“ gewesen, anders als beispielsweise ein Brand oder eine Flut. Dass die Landeswahlleitung sich mit „den Zeiten verrechnet“ habe, sei daher keine Erklärung. Es hätten mehr Wahllokale und mehr Wahlhelfer geben müssen. Dass die Wahlzettel nicht angekommen sind oder nicht verteilt wurden „darf einfach nicht passieren“.
Der „systematische Fehler“ des Berliner Wahlsystems
Das habe Thiel in jeder Vorbesprechung mit den Berlinern immer wieder angesprochen. Die vielen hunderttausend Wahlhelfer in ganz Deutschland würden zeigen, dass das auch funktioniert. „Nur hier in Berlin funktioniert's nicht“, sagte Thiel und prophezeite: „Das wird auch beim nächsten Mal nicht funktionieren , weil wir keine Verbesserung sehen.“
Thiel nennt den schwachen Zugriff, den die Landeswahlleitung auf die Bezirke hat „einen systematischen Fehler“ des Berliner Wahlsystems. Je stärker die Bezirke sind, desto schwächer die Landeswalleitung, so Thiel.
CDU spricht von Berlin als „Bananenrepublik“
In einer ersten Stellungnahme aus der Opposition nannte der Berliner CDU-Generalsekretär, Stefan Evers die Aussagen des Bundeswahlleiters „dramatisch“. Rot-Rot-Grün sei ein komplettes systematisches Versagen bei der Wahlorganisation attestiert worden. „Ausgerechnet in der deutschen Hauptstadt waren Zustände wie in einer Bananenrepublik zu beobachten.“
Wir sind von Rot-Rot-Grün viel gewohnt - aber dieses #Wahl-#Chaos war wirklich ein historisches Versagen. Und danach hat Frau #Giffey mit der gleichen #Koalition einfach weitergemacht. Ernsthafte Konsequenzen: Fehlanzeige. So beschädigt man #Vertrauen in die #Demokratie. https://t.co/yBgkRpxsEN
— Stefan Evers (@BerlinGestalter) May 24, 2022
Grünen-Bundestagsabgeordnete fordert restlose Aufklärung
Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Nina Stahr, zeigte sich fassungslos über das Ausmaß der Fehlentscheidungen, die in Berlin um den Wahltag herum getroffen wurden. „Es ist bemerkenswert, was die Anhörung zutage gefördert hat“, sagte sie der Berliner Zeitung. Es sei wichtig, dass das gesamte Ausmaß der Fehlorganisation aufgeklärt werde. „Ich hoffe, dass der Bundeswahlleiter Berlin für seine nächsten Wahlen genaue Vorgaben macht.“
Sollte die Wahl wenigstens teilweise wiederholt werden müssen, könnte Stahr direkt betroffen sein. Sie war im Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf als Direktkandidatin gegen den CDU-Bundestagsabgeordneten Thomas Heilmann angetreten. Heilmann gewann, Stahr gelangte über die Landesliste in den Bundestag. Sie erhielt ein Ausgleichsmandat, das bei einer Wiederholung der Wahl gefährdet sein könnte.
Bundeswahlleiter kann eine Wiederholung nicht anordnen
Der Bundeswahlleiter hat jedoch keine Befugnis, eine Wahlwiederholung der Bundestags- oder Abgeordnetenhauswahl in Berlin anzuordnen. Über ersteres entscheidet der Bundestag. Das aber sicher erst nach der Sommerpause.
Für die Wahl zum AGH ist in Berlin das Landesverfassungsgericht zuständig. Auch hier soll erst im September über die Wahlfehler verhandelt werden. Zwei bis drei Monate später will man zu einem Urteil kommen. Eine Wiederholungswahl wäre nach aktuellem Zeitplan frühestens im Frühjahr 2023 zu erwarten.