Ein Traum: Wer nicht gendert, bekommt Stromschläge!

Zuletzt schrieb unsere Autorin viel übers Gendern. Nun suchten die Geister der Geschlechterneutralität sie im Schlaf heim. Eine Kolumne.

Zwei Maskierte fixierten mich im Traum und wollten mich zum Gendern zwingen.
Zwei Maskierte fixierten mich im Traum und wollten mich zum Gendern zwingen.Fabian Sommer/dpa

Es ist mitten in der Nacht. Ich liege in meinem Bett, die Augen weit aufgerissen. Neben mir stehen zwei maskierte Personen. Ob es sich um Frauen oder Männer handelt, kann ich nicht sagen. Eine der beiden beugt sich jetzt langsam zu mir herunter, schreit mir ins Ohr: „Du hast jetzt noch eine Chance oder es passiert wieder.“

Ich versuche an den Kabeln zu ziehen, die an verschiedenen Stellen an meinem Körper befestigt sind. Die Personen in meinem Zimmer haben mich aber so fest am Bett fixiert, dass der Versuch kläglich scheitert. Eine Maskenperson schaut mich erwartungsvoll an, aber ich bleibe stumm, bereite mich mental auf den nächsten Stromstoß vor. Der oder die Maskierte zählt langsam runter: „Drei, zwei, eins.“

Mehrere kleine Stromstöße bringen meinen Körper zum Beben

Ich sehe das alles aus zwei Perspektiven. Zum einen blicke ich direkt in das Gesicht des Unbekannten und liege in meinem Bett. Zum andern verfolge ich das Szenario aus der Vogelperspektive. Wie eine Fledermaus hänge ich in der linken Ecke des Zimmers und betrachte das Geschehen von oben. Doch trotz der zwei Perspektiven ist dieser Traum äußerst real. Auch nach einer Woche sind die Erinnerungen an ihn noch nicht verblasst.

Nachdem ein Maskierter bei „eins“ angekommen ist, drückt die andere Gestalt einen blauen Knopf in ihrer Hand. Der Knopf ist mit den Elektroden an meinem Körper verbunden. Sobald der Knopf gedrückt wurde, schießt Strom durch meine Glieder. Meine Gliedmaßen zittern, mehrere kleine Stromstöße bringen meinen Körper zum Beben. Dann ist alles ganz still. Das maskierte menschliche Wesen beugt sich zu mir herunter, flüstert mir ins Ohr: „So und jetzt noch mal. Wie gendert man das Wort Regenschirm korrekt?“

Dieses Wort kann man nicht gendern

Ich winde mich wie ein Regenwurm, der auf dem Trockenen liegt, und versuche mich von den Kabeln zu befreien. Die beiden Gestalten drücken mich mit aller Kraft auf mein Bett. Einer/eine der beiden Maskierten zeigt auf den blauen Knopf in seiner/ihrer Hand: „Noch mal ein bisschen Strom oder willst du es nicht zumindest versuchen?“ Fieberhaft denke ich nach und frage mich, wie man das Wort Regenschirm denn genderneutral formulieren könnte.

Eigentlich handelt es sich ja um einen Gegenstand und nicht um eine Person. Ist es somit nicht vollkommen egal, welcher Artikel vor dem Wort steht? Mein ganzes Leben lang hat sich kein Regenschirm bei mir beklagt und sich ausgeschlossen gefühlt, weil die Nennung seines Namens auf den Artikel „der“ folgte.

Ich denke noch mal nach, schaue nach oben in die linke hintere Ecke. Meine zweite Hälfte, die Fledermaus an der Decke, nickt mir aufmunternd zu, und so schreie ich mit voller Kraft: „Dieses Wort kann man nicht gendern. Es ist ein Regenschirm und es bleibt ein Regenschirm. DER Regenschirm.“ Die Maskierten schauen sich entgeistert an. Schnell landet der Finger auf dem blauen Knopf, und wieder fließt Strom durch meinen Körper.

Das kann doch alles nicht wahr sein, denke ich

Nach einigen Sekunden ist alles wieder vorbei. Aber wie lange bis zum nächsten Stromschlag? Das Wort lässt sich nicht gendern, da bin ich mir zu hundert Prozent sicher. Die Maskierten sind anderer Meinung: „So, Fräulein, jetzt hörst du uns mal gut zu, ja? Das Wort Regenschirm lässt sich sehr wohl gendern. Du kannst dem Schirm doch nicht einfach unterstellen, dass er sich nicht auch als Frau fühlen könnte. Unfassbar ist das, oder?“ Die andere maskierte Person nickt der sprechenden zu. „Dann versuchen wir es doch mal mit einem anderen Wort. Was ist die gegenderte Form des Wortes Lampe?“

Das kann doch alles nicht wahr sein, denke ich. Am liebsten würde ich die beiden anschreien und ihnen sagen, dass sie nicht mehr alle Latten am Zaun haben. Seit wann müssen Objekte bitte geschlechtsneutral bezeichnet werden? Aber vielleicht bin ich mal wieder viel zu konservativ und habe die Relevanz dieser Änderung einfach noch nicht verstanden.

Auf der anderen Seite müsste ich – wenn die beiden recht behalten – mein Vokabular vollständig ändern. Es geht ja nicht mehr nur um einen Genderstern, einen Doppelpunkt zwischen zwei Wörtern oder einen Unterstrich. Die Änderung, die diese zwei Maskierten mir hier in meinem Zimmer einreden möchten, geht einen erheblichen Schritt weiter.

Del Regenschirmon

Erst vor Kurzem habe ich an einem Text über das Gendern gearbeitet und gelesen, dass sich manche Menschen tatsächlich dafür einsetzten, die Artikel der und die in der deutschen Sprache zu ersetzen. Die Bezeichnung von Personen und Objekten würde dann mit dem Artikel „del“ und der Endung „on“ erfolgen. Der Regenschirm würde somit zu del Regenschirmon.

Ist es das, was diese zwei Wesen von mir wollen? Könnte ich mich befreien, indem ich mein Wissen über das Del-On-Sel-System zum Besten gebe? Ich halte Zwiesprache mit mir selbst und entscheide mich dagegen. In meinen Augen hat das nichts mehr mit Genderneutralität zu tun. Die Sprache wird durch die seltsame Endung und das Weglassen des Artikels vollkommen entstellt. Mit dem Gendern konnte ich mich noch mehr oder weniger anfreunden. Aber letztlich sollte es doch jedem Menschen selbst überlassen werden, wie er oder sie sich ausrückt. Oder etwa nicht?

Immer noch nicht zur Vernunft gekommen?

„Bekommst du jetzt mal langsam den Mund auf, oder was ist los?“, herrscht mich einer der Maskierten unverblümt an. Ich entgegne, dass ich kein Interesse an dieser komischen Übung habe und jetzt gerne wieder alleine sein möchte. Beide erwidern einstimmig: „Wir haben aber ein Interesse an deiner veralteten Aussprache. Entweder du passt dich den neuen Gegebenheiten an oder du wirst hier bis zum Ende deines Lebens liegen und aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.“ So langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun.

Ich nehme all meinen Mut zusammen und brülle den beiden Maskierten entgegen: „Das hat doch nichts mehr mit Gendern zu tun. Da mach ich nicht mit! Wie kommt ihr bitte darauf, dass Objekte plötzlich einen neutralen Artikel benötigen? Hat euch die Lampe gesagt, dass sie sich einem anderen Geschlecht zuordnen würde oder sich vielleicht als nonbinär betrachtet? Das kann doch nicht euer Ernst sein!?!“

Mein Geschrei hat die beiden offensichtlich sehr wütend gemacht. Wie wild geworden laufen sie durch mein Zimmer und scheinen zu überlegen, was sie jetzt mit mir anfragen sollen. Der eine sagt: „Wir gehen mit der Intensität am besten ein paar Stufen hoch, und wenn das Fräulein dann immer noch nicht zur Vernunft gekommen ist, sehen wir weiter.“

Welche Antwort ist die richtige?

Der andere nickt, steuert seinen Zeigefinger langsam in Richtung des blauen Knopfs. Mittlerweile habe ich mit der Gesamtsituation abgeschlossen, die beiden werden mich wohl nie wieder gehen lassen. Eine Sache kann ich aber nicht auf mir sitzen lassen, und so rufe ich den beiden mit letzter Kraft entgegen: „Gott verdammt, nennt mich nicht Fräulein. Ihr fordert sprachliche Neutralität und haltet euch selbst nicht daran.“ Zack, der Finger landet auf dem blauen Knopf. Der Strom fließt.

Dann wache ich auf. Die zwei Gestalten sind verschwunden. Das einzige Kabel auf meinem Bett ist das Ladekabel meines Handys. Verwirrt und etwas benommen drehe ich mich um und schlafe wieder ein. Am nächsten Morgen, auf dem Weg in die Redaktion, gehe ich im Kopf verschiedene Wörter durch und überlege, ob und wie man sie am besten gendert. Dann fällt mir auf, dass mir die beiden Maskierten nie gesagt haben, welche Antwort auf ihre Frage die richtige gewesen wäre.

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