Erinnerung als Nullsumme: Warum es falsch ist, Nakba-Demos zu verbieten
Die Berliner Polizei verbietet mehrere pro-palästinensische Versammlungen zum Nakba-Gedenken. Wovor hat die deutsche Mehrheitsgesellschaft Angst?

Worüber sprechen wir, wenn wir Nakba sagen? Die Nakba (deutsch: „Katastrophe“), der jährlich am 15. Mai gedacht wird, bezeichnet die Flucht und Vertreibung Hunderttausender Palästinenser vor und im Zuge der Staatsgründung Israels im Jahr 1948. Für Palästinenser markiert dieses Datum ein kollektives Trauma, den Kern der Zersplitterung palästinensischer Identität und Kultur, auch für diejenigen, die Palästina nie gesehen haben und etwa in Berlin geboren sind. Die Nakba ging mit der Zerstörung Hunderter palästinensischer Dörfer und mehreren historisch belegten Gewaltverbrechen durch zionistische Kampfeinheiten einher. Für zahlreiche Jüdinnen und Juden bildete der infolgedessen gegründete Staat einen Zufluchtsort.
In Israel/Palästina ist die Nakba, trotz politischer Widerstände, inzwischen weitgehend historisch aufgearbeitet. Auch kulturgeschichtlich ist sie kaum wegzudenken. Der in israelischen Schulen gelehrte Roman „Khirbet Khizeh“ des israelischen Autors S. Yizhar von 1949 behandelt die Vertreibung palästinensischer Menschen als eine Geschichte historischer Reue – aus Perspektive jener ‚Ersten Israelis‘, die sie verursachten. Für den letztes Jahr auch auf Deutsch erschienenen Roman „Eine Nebensache“ der palästinensischen Autorin Adania Shibli ist die Nakba die Grundlage einer historisch-politischen Sinn- und Identitätssuche im heutigen Palästina. Auch ein jüngerer Dokumentarfilm namens „Tantura“ des israelischen Regisseurs Alon Schwarz, der einige Wellen schlug, geht in Zeitzeugen- und Experten-Gesprächen jenem düsteren ersten Kapitel israelischer Geschichte auf den Grund, entlang eines Massakers, das israelische Streitkräfte im palästinensischen Ort Tantura an der palästinensischen Bevölkerung verübten. Was heute ein Parkplatz am Strand ist, wurde 1948 zum Massengrab.
Auch Historiker wie Bashir Bashir und Amos Goldberg oder die Journalistin Charlotte Wiedemann diskutierten in den vergangenen Jahren immer wieder eindrücklich, wie eine Erinnerung an die Nakba, parallel zur Erinnerung an den Holocaust, möglich sei, ohne das eine gegen das andere aufzurechnen – sprich, ohne den Holocaust zu relativieren. Ein Beispiel einer solchen Diskussion, die im November 2022 im Goethe-Institut Tel Aviv hätte stattfinden sollen, wurde aufgrund politischen Drucks vor Ort kurzerhand wieder abgesagt. Sprich: Die Nakba ist noch immer, angesichts der extrem rechten, radikal religiösen israelischen Regierung vielleicht mehr denn je, ein zeitaktuelles Politikum.
In Deutschland wird das Sprechen über die Nakba nicht selten pauschal in die Nähe von Antisemitismus gerückt, so etwa in einem jüngst veröffentlichten Bericht der Amadeu-Antonio-Stiftung. Als „antizionistischer Mythos“, so heißt es dort, würde die „Nakba-Erzählung“ verzerrend eingesetzt. Dass eine Anerkennung der Existenz Israels auch mit einer Anerkennung des lokalen, historischen Unrechts einhergehen kann, auf dem Israel gründet – ein Unrecht, um deren Anerkennung die palästinensische Community bis heute weltweit ringt – scheint in den Augen vieler hierzulande bislang unvorstellbar zu sein.
Die Versammlungsfreiheit wird ausgehebelt
Wer derartige Debatten verfolgt, den werden die jüngsten Verbote pro-palästinensischer Nakba-Gedenk-Demos kaum überraschen. So hatte die Berliner Polizei etwa bereits im vergangenen Jahr im Mai fünf pro-palästinensische Versammlungen verboten, darunter auch eine von einer jüdischen Organisation angemeldete Mahnwache, auf der neben der Nakba auch an die von israelischen Soldaten erschossenen, palästinensischen Journalistin Shireen Abu Akleh erinnert werden sollte. Die Begründungen jener Verbote gründeten sich im Jahr 2022 darauf, dass bei ähnlichen Demos eine „hochgradig israelfeindliche bis in den Antisemitismus reichende Stimmung“ geherrscht habe. Überhaupt seien Palästinenser aufgrund lokaler Auseinandersetzungen in Israel/Palästina jetzt erheblich „emotionalisiert“.
Aus rechtlicher Sicht wirkt diese Begründung fragwürdig. Der Jurist Ralf Michaels kommentierte damals, jene Verbote hebelten das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus: „Die Demonstrationsfreiheit dient ja ganz wesentlich gerade dazu, dass Menschen demonstrieren, weil sie angespannt und emotionalisiert sind“, so Michaels. Demonstrieren dürften sie dieser Logik folgend erst dann wieder, „wenn sie sich beruhigt haben“. In der jüngsten, 14-seitigen Begründung des Verbots der „Friedenskundgebung für vertriebene Völker“, auf der letztes Wochenende, am 13. Mai, der Nakba gedacht werden sollte, wird ebenfalls auf die angespannte Lage in Nahost hingewiesen. Und darauf, dass auf vergleichbaren Demonstrationen „antisemitische und gewaltverherrlichende Parolen“ skandiert wurden.
Letzteres ist nicht falsch: Auf pro-palästinensischen Demonstrationen waren in den vergangenen Monaten und Jahren antiisraelische, teils auch antisemitische Äußerungen zu hören. Etwa in Neukölln im April dieses Jahres. Oder in Gelsenkirchen im Mai 2021: Demonstranten schlugen mit Türkei- und Palästinaflaggen vor einer örtlichen Synagoge auf und riefen antisemitische Parolen.
Eine pauschalisierende Negativfolie
Es wäre grundfalsch, derartige Äußerungen schlicht zu dulden. Sie sollten verhindert, gegebenenfalls auch sanktioniert werden. Die benannten Fälle allerdings pauschal zum Maßstab zu erklären, vor dessen Hintergrund jedwede Darstellung palästinensischer Identität, Symbolik oder Erinnerung tabuisiert beziehungsweise per se als potenziell-antisemitische Eskalation deklariert wird, hilft – was die Vorbeugung von Antisemitismus betrifft – eher wenig. Eine derart autoritäre und generalisierende Antwort staatlicher Behörden invertiert vielmehr die Unschuldsvermutung. Palästinenser, so liest sich die hier fraglos mitschwingende Suggestion, seien sui generis antisemitisch. Zumindest solange, bis sie das Gegenteil beweisen. Indem Demonstrationen präventiv verboten werden, wird selbst hierfür die Gelegenheit unterminiert. Das ist, muss man klar sagen, ein undemokratischer Vorgang.
Wie undemokratisch, das zeigt sich schon jetzt auf Berlins Straßen. So unterziehen Polizeikräfte Palästinenser, beziehungsweise Personen, die in ihren Augen wie Palästinenser aussehen, dieser Tage (offenbar in Verkennung des in Deutschland geltenden Verbots von racial profiling) pauschalisierenden Kontrollen. Etwa, wenn sie eine Kufiya tragen (das sogenannte ‚Pali-Tuch‘). Schwer vorstellbar, wie repressiv diese Gemengelage auf palästinensische Berliner wirken muss, zumal angesichts der politischen Eskalation in Israel/Palästina, welche die Nakba-Erinnerung fraglos politisiert und die sprichwörtliche Katastrophe in Augen vieler Palästinenser historisch fortschreibt. In Gaza starben nach letzten Angaben während der jüngsten Offensive um die 16 Zivilisten durch israelischen Drohnenbeschuss, darunter auch Kinder. Israelische Vertreter sprachen von jenen Opfern als „Kollateralschaden“.
Ein Entwurf des Bundesinnenministeriums zur Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts, der in den kommenden Wochen verabschiedet werden und unter anderem auch „antisemitische Handlungen“ erfassen soll, lässt zudem befürchten, dass palästinensische Staatenlose, die deutsche Staatsbürger werden möchten, schon bald weitreichenden, pauschalisierenden Vorverurteilungen unterliegen könnten. Etwa, indem ihre Einbürgerung von ihrer Haltung zu israelischer Politik oder von ihrer Einschätzung der israelisch-palästinensischen Geschichte abhängig gemacht würde.
Man könnte spekulieren, ob es sich bei all dem um eine spezifisch deutsche Projektion handelt, die Palästinensern eine besondere Rolle als quasi ‚erinnerungspolitische Störenfriede‘ zuweist. Keine Frage: Ihre Existenz, ihre Geschichte, auch ihre Kritik irritiert ein hierzulande recht beliebtes Zerrbild Israels als eine Art versöhnlicher Endpunkt deutscher Schuldgeschichte. Dieses Bild schützen manche in Deutschland womöglich auch deshalb so energisch, weil sie tiefergehende Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte fürchten. Oder weil sie von Kontinuitäten der NS-Ideologie ins ach so demokratische Deutschland von heute nicht reden möchten.
Womöglich handelt es sich bei den verallgemeinernden Annahmen über Palästinenser aber auch einfach um eine moderne Version rechten Kulturkampfs, die sich in letzter Zeit größerer Beliebtheit erfreut. Zuletzt zeigte sich das etwa auch in den USA, als der Sprecher des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, versuchte, der palästinensisch-amerikanischen Abgeordneten Rashida Tlaib zu untersagen, eine Veranstaltung zum Nakba-Tag im US-Kapitol abzuhalten.
Wie dem auch sei: Verfolgt man die Debatte um die benannten Demonstrationsverbote, dann drängt sich einem der Verdacht auf, dass es hier weder darum geht, die Existenz Israel zu beschützen, noch die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, sondern vielmehr die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Wovor? Vor der Schwierigkeit, sich mit Palästinensern – ihrer Geschichte, ihren Ausdrucksformen, ihrer Kritik – auseinanderzusetzen, anstatt sie schlicht als gefährlichen Hokuspokus abzutun.
Die Haltung gegenüber palästinensischer Erinnerung geht über die Frage der Demonstrationen letztlich weit hinaus. An ihr wird sich in Zukunft messen lassen, ob und inwieweit die deutsche Gesellschaft tatsächlich zu pluraler Erinnerung in der Lage ist. Oder ob es uns nicht vielmehr darum geht, Erinnerung nullsummenhaft zu verwalten: zur Wahrung des Status quo und der eigenen Ignoranz.