Mit großem medialem Aufwand hat diese Woche Jaroslaw Kaczynski, der Parteichef der in Polen regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), einen angeblich jahrelang vorbereiteten Bericht vorgelegt, der nachweisen soll, dass der Schadenswert des deutschen Überfalls und der anschließenden Besetzung Polens durch Hitlerdeutschland 6,2 Billionen Zloty (ca. 1,3 Billionen Euro) beträgt.
Der Bericht soll nach den bereits im Juli erfolgten Ankündigungen führender Politiker der polnischen Regierung als Grundlage für Verhandlungen über Reparationen dienen. Nun mag man sich in Deutschland darüber wundern, wie man 78 Jahre nach dem Ende eines Krieges noch Reparationen von anderen Kriegsteilnehmern verlangen kann, wenn von den Tätern und Opfern dieses Krieges so gut wie niemand mehr lebt.
Aber mit dieser Forderung ist Polen nicht allein, schon vor Jahren haben Griechenland und Italien ähnliche Forderungen erhoben, und Namibia soll nun irgendwann in nächster Zeit sogar etwas bekommen, das namibische und deutsche Medien Reparationen nennen, von dem das Auswärtige Amt und das Präsidialamt (die das entsprechende Abkommen ausgehandelt haben) aber behaupten, es seien gar keine. Und das, obwohl die Ereignisse, wegen derer diese „Reparationen“ gezahlt werden sollen, sogar fast 120 Jahre zurückliegen.
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Der Hintergrund ist todernst
Da mag sich dann der eine oder andere Bundesbürger doch verdutzt die Augen reiben und fragen: Was kommt da auf mich zu? Und tatsächlich hebt das die polnischen Forderungen von den griechischen, italienischen und namibischen ab: Sie sind riesig.
Geht man der Sache auf den Grund, erkennt man aber schnell: Da kommt nicht viel, um nicht zu sagen, nichts auf die Bundesrepublik zu. Manches davon ist ein wenig absurd, anderes unfreiwillig komisch, vieles unverständlich – obwohl der Hintergrund durchaus ernst, geradezu todernst ist.
Reparationen, Entschädigungen, Ausgleichszahlungen
Fragt man Experten für Völkerrecht, die sich einigermaßen allgemeinverständlich ausdrücken können, so erfährt man, dass es bisher in der Geschichte der internationalen Beziehungen vor allem Reparationen und Entschädigungen gab. Reparationen wurden von Staaten an andere Staaten gezahlt, entweder mit Geld oder in Form von Sachleistungen und Beschlagnahmungen: Nach dem preußisch-französischen Krieg musste Frankreich die zahlen, nach dem Ersten Weltkrieg war dann Deutschland dran, woran man sieht, dass die Frage, wer am Krieg schuld war, dabei nur eine untergeordnete Rolle spielt – zahlen musste der Verlierer und Nutznießer war der Gewinner.
Auch Kriegsverbrechen spielten damals keine große Rolle: Fast alle Kriegsparteien setzten damals Giftgas ein, aber Versuche der Entente-Mächte, nach dem Krieg deutsche Offiziere und sogar den Kaiser selbst für Kriegsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen, endeten wie das Hornberger Schießen. Von Deutschlands und Österreich-Ungarns Gegnern wurde niemand bestraft. Reparationen, das waren Leistungen, für die es weder eine moralische noch eine juristische Grundlage geben musste, wer stark genug war, nahm sie sich: Nach 1871 nahm sich das Deutsche Reich Elsass-Lothringen, danach nahm Frankreich es wieder zurück, dann holten sich Frankreich, Großbritannien und Belgien die deutschen Kolonien und beschlagnahmten deutsche Vermögenswerte, deren sie habhaft werden konnten, wie zum Beispiel in fremden Häfen ankernde deutsche Schiffe.
Warum Polen von Deutschland erst kein Geld bekam
Nach dem Zweiten Weltkrieg regelten die Reparationsfrage dann die Alliierten unter sich, in Bezug auf Deutschland auf der Potsdamer Konferenz. Briten und Amerikaner hielten sich dabei zurück, weil sie auf die Unterstützung der deutschen Bevölkerung in ihren Besatzungszonen rechneten und verhindern wollten, dass die Deutschen aus Armut und Hunger ihre Rettung im Kommunismus suchten. Frankreich war da etwas weniger enthaltsam, und die Sowjets räumten ganze Fabriken und Eisenbahnanlagen ab und schafften sie gen Osten.
An dieser Stelle wird’s zum ersten Mal absurd: Am 17. Juni 1953 brachen die Arbeiter in der DDR einen Aufstand vom Zaun und sorgten damit ungewollt dafür, dass Polen keine deutschen Reparationen bekam. Polen hatte auf der Potsdamer Konferenz die deutschen Ostgebiete „zur Verwaltung“ bekommen und auf diesem Gebiet eifrig allerlei Dinge entnommen und nach Zentralpolen verbracht, was in den Augen übelwollender Zeitgenossen auch nichts anderes als Reparationen waren. Kaum jemand glaubte damals, dass die Gebiete dauerhaft polnisch bleiben würden, und so ging es darum, Fakten zu schaffen.
Jaroslaw Kaczynski wollte als Erster Reparationen
Nach dem Aufstand in der DDR wollten die Sowjetbehörden die Lage beruhigen und auf weitere Entnahmen aus ihrer Besatzungszone verzichten. Deshalb überzeugten sie Polen davon, seinerseits auf Reparationen gegenüber „Deutschland“ (auch sie hielten die Teilung nicht für permanent) zu verzichten, und verpflichteten sich dazu, Polen aus dem sowjetischen Anteil der Reparationen zu entschädigen. Die polnische Regierung erklärte einen einseitigen Verzicht auf Reparationen, den sie bei den Verhandlungen zum Vertrag zwischen der Volksrepublik und der Bundesrepublik 1970 noch einmal bestätigte. Damit war die Sache auf Jahrzehnte erledigt, bis 2017 Jaroslaw Kaczynski auf die Idee kam, in Zweifel zu ziehen, ob der Verzicht von 1953 wirklich rechtsgültig war.
Polen sei damals nicht souverän gewesen, es habe den Verzicht nicht aus freien Stücken erklärt und außerdem habe es auch nie die versprochene Entschädigung von den Sowjets bekommen. Seither verkünden seine Unterstützer und Berater, da sei noch eine Rechnung offen. Allerdings haben sie bisher immer darauf verzichtet, diese auch auszustellen.
In Berlin ist man nämlich anderer Meinung und hat nie die geringste Lust verspürt, über die Frage auch nur zu verhandeln. Das hinderte führende polnische Politiker aber nicht daran, so zu tun, als würden sie darüber mit Deutschland verhandeln: Man kündigte vor einem bilateralen Treffen an, man werde das Thema zur Sprache bringen, erwähnte es mit keinem Wort hinter verschlossenen Türen und verkündet dann vor der eigenen, überwiegend geneigten Presse, wie hart man darüber verhandelt habe und dass das „bei den Deutschen wohlwollend zur Kenntnis genommen worden sei“. Das klingt lustig, manchmal war es das auch, aber es hat einen todernsten Hintergrund. Oder genau genommen sogar zwei.
Wenn aus Spaß bitterer Ernst wird
Zum einen muss man ziemlich lange in der neueren europäischen Geschichte suchen, bis man einen Fall findet, in dem ein Land dem anderen solche Dinge angetan hat wie Hitlerdeutschland damals Polen. Nach heutigen Kriterien war das schlicht Völkermord, und es ist kein Zufall, dass Raphael Lemkin, ein polnischer Jude, der in die USA ausgewandert war, das Konzept des Völkermords entwickelte: um deutlich zu machen, dass die deutsche Besatzung, er nannte sie „die Herrschaft der Achse im besetzten Europa“, mehr war als nur eine Abfolge von Kriegsverbrechen und Massenmorden.
Das Problem an dieser Argumentation besteht nur darin, dass man noch länger suchen muss in der neueren Weltgeschichte, bis man einen Fall findet, in dem das Verbrechen eines Landes an einem anderen vom Täter so gesühnt wurde, dass das Opfer ausnahmslos und für immer zufriedengestellt war. Als Kriege noch darin bestanden, dass feindliche Kämpfer im Nahkampf übereinander herfielen, konnte man Konflikte durch die Zahlung von Blutgeld und Blutopfern beilegen.
Seit Staaten mit Massenvernichtungswaffen übereinander herfallen und einige wenige Täter ganze Völkerschaften ausrotten können, ist die Schuld der Täter in der Regel vollkommen unverhältnismäßig zu ihrer Möglichkeit, sie zu sühnen bzw. Entschädigung zu leisten. Selbst wenn sie wollte, könnte die Bundesrepublik Polen keine 1,3 Billionen Euro zahlen. Und selbst wenn sie es könnte, sollte Polen das nicht verlangen. Nicht nur, weil das wie weiland in der Weimarer Republik zu einem Rückfall in den Nationalismus führen würde, sondern auch, weil es die Wirtschaft Polens ruinieren würde. Polen bekäme dann die „holländische Krankheit“, wie Ökonomen jenen Schock nennen, der durch einen plötzlichen riesigen Devisenzufluss ausgelöst wird und den Länder wie Kolumbien, Aserbaidschan, Indonesien und eben die Niederlande infolge von Rohstoffexporten erlebten: Die schockartige Aufwertung der eigenen Währung macht jeden Export anderer Güter unrentabel und führt zu einem Importboom, der die eigene Industrie und viele Arbeitsplätze vernichtet.
Forderungen an Russland
Entweder müsste man die polnischen Forderungen so strecken, dass sie für beide Länder verkraftbar werden – dann hätten aber die Empfänger nicht viel davon. Oder man nimmt das Ganze gar nicht erst ernst.
Aber es gibt da noch einen weiteren Grund, der diesen seltsamen Tanz um Reparationen gefährlich macht. Während der gesamten Nachkriegszeit galt in der Bundesrepublik eine juristische Doktrin, der zufolge die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz Deutschland nicht binden, weil es daran nicht teilgenommen hat. Polnische Juristen, kommunistische und antikommunistische wie der erste demokratische Außenminister Krzysztof Skubiszewski (weiß Gott kein Feind der Deutschen), argumentierten dagegen, nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches 1945 und seiner Aufteilung in Besatzungszonen habe es gar keinen deutschen Staat mehr gegeben, der in Potsdam hätte beteiligt werden können. Und dass deshalb Potsdam, wo ja auch die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Westverschiebung Polens beschlossen wurde, sehr wohl für Deutschland bindend sei.
Und jetzt kommt die richtig gefährliche Stelle: Wenn Polen also 1945 souverän war, als es die deutschen Ostgebiete übernahm, aber acht Jahre später, als es (mit einer international anerkannten Regierung und einem Sitz in der Uno) auf Reparationen verzichtet, nicht mehr – wem gehörten dann zwischen 1945 und 1953 die ehemaligen deutschen Ostgebiete? Mehr noch: Wenn die polnische Regierung nun Reparationen verlangt, weil sie für diesen Verzicht von den Sowjets damals nicht rechtmäßig entschädigt wurde, dann hat sie eine Forderung an Russland, den Rechtsnachfolger der UdSSR, und nicht an die Bundesrepublik.
Die finanziellen Mittel der Bundesrepublik sind nicht unbegrenzt
Auch fast alle polnischen Völkerrechtsexperten finden, dass sich der Verzicht von 1953 nur zusammen mit den Ergebnissen der Potsdamer Konferenz anfechten lässt, wobei es allerdings kein Gericht gibt, vor dem man das tun könnte. Nimmt man es trotzdem ernst, müsste man 78 Jahre nach Kriegsende eine Friedenskonferenz unter Beteiligung der damaligen Alliierten, also Russlands, Frankreichs, Großbritanniens, der USA, Deutschlands, Polens und aller damaligen Feindstaaten Deutschlands einberufen, die über Reparationen, über Deutschlands Grenzen, aber damit zugleich auch über Polens Grenzen neu entscheiden müsste.
Wem das keine Gänsehaut über den Rücken jagt, dem kann vermutlich nur noch dieser Hinweis helfen: Je mehr Teilnehmer eine solche Konferenz hätte, desto weniger bliebe am Ende für Polen übrig. Denn auch wenn Olaf Scholz uns in den letzten zwei Jahren vom Gegenteil zu überzeugen versuchte: die finanziellen Mittel der Bundesrepublik sind nicht unbegrenzt.
Gebt das Geld den Opfern
Aber zum Glück für Polens Regierung gibt es ja eine Alternative: individuelle Entschädigungen für Opfer. Diesen Weg ist Ende der 90er-Jahre bereits die Regierung Gerhard Schröder gegangen, um aufwendige und für die deutschen Konzerne in den USA gefährliche Gerichtsverfahren ehemaliger Zwangsarbeiter zu vermeiden. Konzerne und Bundesregierung legten zusammen, schufen einen Fonds, aus dem dann – über zwischengeschaltete Stiftungen im Ausland – ehemalige Zwangsarbeiter mit sogenannten „humanitären Leistungen“ einmalig entschädigt wurden. Ihre Regierungen mussten sich verpflichten, weitergehende Forderungen zu übernehmen, die Empfänger unterschrieben, ihre Forderungen seien damit abgegolten.
Das Problem dabei: Zahlungen werden nur an noch lebende Opfer geleistet. Wäre das anders, würde ein Präzedenzfall entstehen, der es Nachkommen von Opfern ermöglichen würde, zeitlich unbegrenzt Forderungen zu stellen. Dann könnten Peruaner von Spanien Entschädigungen verlangen für koloniale Verbrechen, die die spanischen Urururgroßväter an den Urururenkeln der heutigen Peruaner verübt haben. Nach entsprechender Verzinsung wäre Spanien dann bettelarm und Peru hätte eine extreme Form der holländischen Krankheit.
Auch die Zahlungen aus Schröders Fonds gingen nur an Menschen, die selbst persönlich Zwangsarbeit geleistet hatten – nicht an ihre Nachfahren.
Diplomatische Eiertänze in Deutschland sind genauso lustig wie in Polen
Würde man nun einen weiteren solchen Fonds auflegen, um damit den Appetit der PiS-Regierung auf Zahlungen aus Deutschland zu stillen, hätte das aus deren Sicht zwei enorme Nachteile: Die Zahlungen würden nur eine ganz geringe Zahl von Menschen betreffen (z. B. ehemalige noch lebende Teilnehmer des Warschauer Aufstands), denn heute sind fast alle, die die deutsche Besatzung noch selbst erlebt haben, tot. Und das Geld liefe am polnischen Haushalt vorbei, direkt aus dem Bundeshaushalt (oder einem Sonderfonds) auf die Konten der Berechtigten. Und es wäre natürlich auch etwas weniger als jene 1,3 Billionen.
Um diese Klippe zu umschiffen, haben die Bundesrepublik und Namibia eine hybride Form von Entschädigungen ausgehandelt, durch die 1,1 Milliarden Euro an eine deutsch-namibische Stiftung ausgezahlt werden, die ihrerseits aber nichts an Opfer oder ihre Nachkommen auszahlt, sondern Projekte in jenen Siedlungsgebieten fördert, in denen die Nachkommen der Überlebenden des deutschen Völkermords an den Nama und Herero heute leben. Das sind auch keine Reparationen für den Völkermord an den Herero und Nama. Dafür wird Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, wenn Namibia ihn einlädt und das Abkommen ratifiziert, um Entschuldigung bitten, aber die Zahlungen werden offiziell freiwillige humanitäre Leistungen ohne Zusammenhang mit dem Völkermord sein. Im Auswärtigen Amt möchte man einen Präzedenzfall vermeiden. Diplomatische Eiertänze in Deutschland sind genauso lustig wie in Polen.
Für die polnische Regierung ist der Fall Namibia kein brauchbares Beispiel: Bei einer Anwendung auf die polnischen Reparationsforderungen würde dabei zwar potenziell mehr Geld drinstecken als bei direkten individuellen Entschädigungen, aber auch diese Überweisungen würden am polnischen Staatshaushalt vorbeifließen.
Ein selbst gestricktes Dickicht aus Paragrafen
Bisher haben die polnischen Regierungen von Mateusz Morawiecki und Beata Szydlo, die in Polen Reparationsforderungen erhoben, stets darauf verzichtet, klarzustellen, was genau sie eigentlich wollen: Reparationen aus dem Bundeshaushalt ins polnische Budget, individuelle Entschädigungen nach dem Vorbild der Zwangsarbeiterstiftungen oder ein hybrides Modell wie mit Namibia. In der Regel haben sie einfach behauptet, Deutschland habe nach 1945 an alle Welt Reparationen gezahlt, nur an Polen nicht. Das ist formal richtig (weil die UdSSR diese übernommen hat), abstrahiert aber von der Tatsache, dass Polen, was individuelle Entschädigungen angeht, im Ranking der Begünstigten nach Israel an zweiter Stelle liegt. Jetzt ist klar: Die Regierung in Warschau will richtige Reparationen, von Haushalt zu Haushalt und zur freien Verfügung.
Nun wird die Bundesregierung, wenn sie überhaupt etwas sagt, vermutlich das wiederholen, was sie in den letzten sieben Jahren auch immer gesagt hat: dass das Thema juristisch erledigt sei. Meist folgt dann ein konzilianter Satz darüber, dass sich Deutschland seiner moralischen Verantwortung bewusst sei oder etwas anderes, was polnische Nationalisten zur Weißglut bringt. Dabei wäre es deutlich unterhaltsamer, den Text etwas abzuändern, den Ball zurück in den Garten von Mateusz Morawiecki und Andrzej Duda zu spielen und zu fragen, wie diese denn garantieren wollen, dass eine künftige polnische Regierung nicht plötzlich auf die Idee kommt, die Souveränität Polens beim Erhalt deutscher Reparationen infrage zu stellen und neue Forderungen anzumelden?
Die wenigen Völkerrechtler, die der Regierung in dieser Frage die Stange halten, haben in den letzten Jahren immer eine Art juristischer Achterbahn absolviert: Immer wenn in der Weltgeschichte etwas aus heutiger Sicht für Polen Vorteilhaftes geschah, erklärten sie es für gültig und Polen für souverän. Immer wenn etwas geschah, was aus heutiger Sicht nachteilig war, erklärten sie Polen für nicht souverän und das entsprechende Ereignis für nicht gültig. Als Polen die deutschen Ostgebiete bekam, war es souverän. Als es 1953 auf Reparationen verzichtete, war es nicht souverän, obwohl es drei Jahre früher souverän genug gewesen war, sich von der DDR im Görlitzer Vertrag seine Westgrenze bestätigen zu lassen. 1970 bestätigte es den Reparationsverzicht und erhielt die Bestätigung seiner Westgrenze durch die Bundesrepublik. Da war es dann wieder souverän, genau wie 1990 und 1991, als es die beiden Verträge schloss, die bis heute gelten.
Wo kein Richter ist, sind auch keine Reparationen
Das zeigt bereits, dass es die polnische Regierung auch vor Gericht nicht leicht hätte, ihre Position zu vertreten. Schon die Wahl des Gerichts ist schwierig genug. Vor polnischen Gerichten haben ausländische Staaten Immunität, genauso wie Polen Immunität vor ausländischen Gerichten hat. Die polnische Regierung ist dabei, diese Immunität abzuschaffen und polnischen Bürgern zu erlauben, Deutschland (denn nur darum geht’s ja) vor polnischen Richtern zu verklagen.
Solche Urteile werden außerhalb Polens natürlich nicht anerkannt, aber die polnischen Richter könnten dann immerhin deutsches Vermögen, das nicht unter die diplomatische Immunität fällt, beschlagnahmen. Etwas Ähnliches haben italienische Richter vor einigen Jahren auf Antrag griechischer Gerichte getan und eine deutsche Villa konfisziert. Die Bundesregierung hat sie vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt und recht bekommen. Der Gerichtshof hat dabei auch gleich klargestellt, dass er für Klagen über Angelegenheiten des Zweiten Weltkriegs nicht zuständig ist.
Er hat nicht über die Berechtigung der griechischen und italienischen Reparationsforderungen geurteilt, sondern nur darüber, ob die Villa unter die Staatenimmunität fällt. Sie fiel. Im Fall Polen würde sie das auch, weshalb PiS-Abgeordnete bereits einen Antrag beim polnischen Verfassungsgericht eingebracht haben, die Staatenimmunität generell für verfassungswidrig zu erklären, was natürlich auf der internationalen Ebene bedeutungslos ist. Dort herrscht ohnehin das Gegenseitigkeitsprinzip, das leicht zum Bumerang werden könnte, etwa wenn deutsche Kläger, deren Vermögen nach 1945 in Oberschlesien beschlagnahmt wurde, dann den polnischen Staat vor deutsche Gerichte zerren. Früher nannte man dieses Prinzip „Haust du meine Tante, hau ich deine Tante“. Das war die kürzeste Zusammenfassung internationaler Politik, die mir bisher begegnet ist.
Es ist nicht einfach, sich in diesem juristischen Dickicht zurechtzufinden
Die Herero und Nama haben übrigens versucht, diese Klippe zu umschiffen, und haben nicht Deutschland, sondern deutsche Unternehmen in den USA (wo die Bundesrepublik auch Staatenimmunität hat) verklagt. Das können dort auch Nicht-US-Bürger tun, allerdings nur in einer Zeitspanne von fünf Jahren nach dem Ereignis. Und der Zweite Weltkrieg ist halt doch ein wenig länger her.
Es ist nicht einfach, sich in diesem juristischen Dickicht zurechtzufinden. Da fragt sich der unbedarfte Beobachter dann natürlich schon: Warum tut sich die polnische Regierung das überhaupt an? Und hier kommen wir zum wirklich humoristischen Teil.
Den Hasen jagen, ohne ihn zu fangen
Nach acht Jahren Regieren hat die PiS-Regierung ihren Karren so tief in den Morast gefahren, dass selbst Baron von Münchhausen nicht mehr in der Lage wäre, sich am eigenen Schopf da herauszuziehen. Sie hat fast alle Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft und Finanzen mit eigenen Parteigängern besetzt, darunter auch die Nationalbank und das Verfassungsgericht. Allerdings tat sie das trotz ihrer Mehrheit im Parlament so, dass die Berufungen vor unabhängigen Richtern angefochten werden können.
Und da die Umfragewerte der PiS durch die zweistellige Inflationsrate, Umwelt- und Korruptionsskandale und ständigen Streit in der Regierung permanent sinken, befürchten ihre Wahlkampfstrategen eine Katastrophe bei den Wahlen im kommenden Jahr. Es geht aber nicht nur um die Macht, es geht buchstäblich um die persönliche Freiheit vieler Regierungspolitiker: Übernimmt nächstes Jahr die Opposition die Macht, drohen ihnen Strafprozesse wegen Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Machtmissbrauch und unter Umständen sogar Hochverrat. Die entsprechenden Ermittlungsverfahren wurden bisher durch die politisch gelenkte Staatsanwaltschaft blockiert, und wo kein Kläger ist, ist bekanntlich auch kein Richter. Nach einem Machtwechsel dürfte sich das schnell ändern.
Verschwörungstheorien gegen Donald Tusk
Auf ihre Kernwähler kann die PiS immer noch zählen. Sie werden keine andere Partei wählen, denn sie sind keine Anhänger mit politischen Überzeugungen, sondern Gläubige, die ähnlich einer Erweckungsbewegung ihrem Anführer auch dann glauben, wenn er sich – was Kaczynski häufig tut – selbst widerspricht. Aber frustriert von den Auseinandersetzungen im Regierungslager und der Unfähigkeit der Regierung könnten sie einfach bei der Wahl zu Hause bleiben.
Um sie zu mobilisieren, führt die PiS nun eine Kampagne mit dem Ziel, die Opposition als deutsche Agenten und Marionetten der Regierung in Berlin zu diskreditieren. Seit Wochen erfahren die Hörer und Zuschauer der staatlich kontrollierten Medien deshalb, dass Donald Tusk, der Chef der größten Oppositionspartei Bürgerplattform und bis vor Kurzem Präsident des Europäischen Rats, von „den Deutschen“ aus Brüssel nach Polen geschickt wurde, um dort die Vorsitzende des Verfassungsgerichts und den Chef der Nationalbank zu stürzen und damit den Weg freizuräumen für einen Beitritt zur Eurozone, der Polen seiner Souveränität berauben würde.
Im Regierungslager liegen die Nerven blank
Die wird, so der außenpolitische Berater Kaczynskis und EU-Parlamentarier Zdzislaw Krasnodebski, von der EU mehr bedroht als von Russland. Denn die EU ist ein deutsches Vehikel zur Unterwerfung Polens, mit dessen Hilfe Deutschland, so wieder Kaczynski, „ein viertes Reich“ errichten will. Deshalb auch ist Deutschland zurzeit an allem schuld, was in Polen danebengeht, selbst an der Vergiftung der Oder. Die Forderung von Umweltministerin Steffi Lemke, Polen möge auf den Ausbau der Oder verzichten, wurde auf einem regierungsnahen Propagandaportal sogar zu einer „weiteren deutschen Invasion“. Im Regierungslager liegen die Nerven so blank, dass einzelne Kommentatoren regierungsnaher Medien bereits zum Mord an Donald Tusk aufgerufen haben.
Das ist der Hintergrund der Reparationsforderungen. Sie werden nicht erhoben, um Geld aus Deutschland zu bekommen (obwohl das sicher ein willkommener Nebeneffekt wäre), sondern um den radikalen Teil der PiS-Wählerschaft zu mobilisieren und die Opposition an den Pranger stellen zu können.
Alle Oppositionsparteien haben auf europäischer Ebene deutsche Partner. Alle deutschen Parteien mit polnischen Partnern lehnen Reparationsforderungen ab. Damit steht die polnische Opposition vor dem Dilemma, entweder die PiS-Forderungen zu unterstützen und es sich mit ihren deutschen Partnern zu verderben oder offen zu sagen, dass die PiS-Forderungen gefährlicher Unsinn sind, was in den staatlich kontrollierten Medien sofort eine Kampagne auslösen wird über die vaterlandslosen Gesellen der Opposition, die alle in deutschem Sold stehen und deutsche, statt polnische Interessen vertreten. Es geht, wie ein polnisches Sprichwort sagt, nicht darum, den Hasen zu fangen, sondern ihn zu jagen.
Der Kampf mit der EU
Das mag rustikal klingen und hat durchaus das Potenzial, in Gewalt auszuarten. Solche Kampagnen wurden schon mehrmals von radikalen Parteigängern der einen und anderen Seite als Freibrief für politische Anschläge verstanden. Und es ähnelt der Lage in Griechenland während der Euro-Krise, als die griechische Regierung paralysiert hin- und herschwankte zwischen dem Versuch, in der Eurozone zu bleiben, und der Notwendigkeit, dafür die Bedingungen der Trojka erfüllen zu müssen.
Nun steckt die polnische Regierung in einer ähnlichen Lage: Ihr fehlt die eigene Mehrheit, um die Bedingungen des EU-Wiederaufbauplans erfüllen zu können, den sie zugleich aber dringend braucht, weil sie die Mittel zum Teil schon vorfinanziert und sich dafür selbst eifrig gelobt hat, überzeugt, die EU-Kommission werde schon einknicken. Ist sie aber, aller Unkenrufe zum Trotz, bisher nicht.
Nur Den Haag könnte sich zuständig fühlen
Sie verlangt immer noch Nachbesserungen bei der Justizreform, für die die PiS keine eigene Mehrheit hat. Und da die PiS-Führung inzwischen begonnen hat, ihre eigene Anti-EU-Propaganda zu glauben, ist sie überzeugt, Zugeständnisse der Kommission erzwingen zu können, wenn sie nur eifrig Druck auf Berlin ausübt – indem sie möglichst gigantische Reparationen fordert, genau wie die Regierung Alexis Tsipras vor zehn Jahren in Griechenland.
Dann nämlich, so verkünden Regierungspolitiker unter der Hand, würden „die Deutschen“, Godfather ähnlich, an den Strippen ihrer Brüsseler Marionetten ziehen und Ursula von der Leyen (immerhin auch eine Deutsche) ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen kann. Und bevor sie riskiert, mit einem blutigen Pferdekopf im Bett zu erwachen, gibt sie dann die Mittel frei, die, so Ministerpräsident Morawiecki, „Polen einfach zustehen“.
Es sei nicht verschwiegen, dass die griechische Regierung für ihre Forderungen deutlich bessere juristische Argumente hatte als die polnische. Dass die ganze Angelegenheit tatsächlich einmal vor einem Gericht endet, ist unwahrscheinlich. Nur der Internationale Gerichtshof in Den Haag kommt dafür infrage, aber der hat sich ja selbst die Zuständigkeit für Angelegenheiten des Zweiten Weltkrieges abgesprochen und könnte somit nur urteilen, wenn beide Seiten, Deutschland und Polen, ihn darum bitten. Warum ein Deutschland, das die polnische Regierung stürzen und durch eigene Agenten ersetzen will, das polnische Flüsse vergiftet und ein viertes Reich aufbaut, sich auf so etwas einlassen sollte, auf diese Frage haben auch Polens regierende Nationalisten bisher keine Antwort gegeben.
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