Europa versinkt im moralischen Lockdown
Die Behandlung von Geflüchteten in Europa ist ein historischer Skandal. Politiker aus der EU verraten im großen Stil alle humanistischen Werte.

In der EU kursierte vor einiger Zeit ein Entwurf für eine Regulierung, der zufolge der Begriff „Weihnachten“ abgeschafft werden solle – aus Rücksicht auf nicht-christliche Europäer. Als Verteidiger der abendländischen Tradition meldeten sich vor allem Rechte und Rechtsextreme. Die Kirchen hatten kein Problem, die Unterstützung aus der falschen Ecke zu begrüßen. Allerdings wäre es nur konsequent, auch den Begriff „Weihnachten“ in Europa abzuschaffen: Der Geist dieses Festes ist aus Europa längst verflogen. Rechtsextreme, skrupellose Politik ist „Mainstream“ in Europa. Die Preisgabe der europäischen Werte in einem allgemeinen Klima des Misstrauens, der Aggression und der Feindseligkeit ist vor allem im grausamen Umgang Europas mit Geflüchteten zu erkennen.
Die Bilder von der polnisch-belarussischen Grenze flackern mit müder Routine über die Bildschirme. Die polnische Regierung agiert ohne Erbarmen. Das Christentum ist in dem Land, das einmal einen Papst gestellt hat, nur noch ein Schatten seiner selbst. Während die anderen Europäer sonst jedes rechtsstaatliche Defizit in Polen anprangern, erhält Warschau explizit Zustimmung für die mutige „Verteidigung“ der europäischen Außengrenzen. Tatsache ist jedoch, dass nicht Soldaten auf der anderen Seite stehen, sondern unbewaffnete Menschen, die vor vom Westen angezettelten Kriegen geflohen sind. Sie werden vom Diktator Lukaschenko missbraucht, und der Westen spielt mit, degradiert sie zu Komparsen in diesem schäbigen Welttheater.
Es ist nicht nur dieser Schauplatz, auf dem die europäischen Werte verraten werden, jene Werte, die die neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock so gerne in alle Welt exportieren möchte, vor allem nach China und Russland. In Griechenland kommen immer weniger Geflüchtete an. Viele sterben auf der Überfahrt. Der Tod lauert auf sie, nicht irgendwo, nein, mitten in Europa.
Auch für diejenigen, die es schaffen, wird es immer härter: Aus Griechenland melden Menschenrechtsorganisationen übereinstimmend, dass Geflüchtete gezielt dem Hunger ausgesetzt werden. Die Regierung in Athen hat die Gesetzeslage vor einigen Monaten dahingehend verändert, dass Flüchtlinge auf dem Festland den Status der Obdachlosigkeit zugeteilt bekommen. Bei den Schikanierten handelt es sich um anerkannte Asylwerber. Mit der neuen Gesetzeslage fallen für sie sämtliche Sozialhilfen weg.
Mit der Maßnahme sollen die Menschen in die Lager auf den Inseln zurückgetrieben werden. Dort herrschen, so die griechische Sektion von Terre des hommes Hellas, menschenunwürdige Zustände und vollkommene Rechtlosigkeit. Neugeborene könnten kaum noch ernährt werden. Denn die Regierung hat die meisten Sozialleistungen auch für die Lager drastisch zurückgefahren. Die Menschen sollen sich selbst ernähren. Durch Arbeit geht das nicht, denn die Geflüchteten müssten einen festen Wohnsitz und ein Bank-Konto haben, um Arbeit zu bekommen. Die EU-Kommission hat die verheerende Lage bereits vor Monaten in einem Brief an die griechische Regierung angeprangert. Es gab keine Antwort. Athen will „Abschreckung“ praktizieren, sagt, die anderen EU-Länder kümmere das Problem nicht – solange es nicht auf ihrem eigenen Territorium spielt.
Das stimmt und hat Methode: Dänemark, bei den meisten Kriegen immer vorne dabei, um „Menschenrechte“ und „Demokratie“ in aller Welt zu verteidigen, hat dieser Tage 300 Gefängniszellen im Kosovo angemietet. Dort sollen in Dänemark verurteilte Nicht-EU-Gefangene verfrachtet werden, die nach Verbüßung ihrer Haftstrafen auf ihre Abschiebung in ihre Heimatländer warten. Kopenhagen zahlt dafür 210 Millionen Euro „Miete“ in den kommenden Jahren an Pristina. Das Geld soll für „grüne Transformation“ des Kosovo verwendet werden. Regierungsbeamte werden die neuen Zellen in Gjilan, 50 Kilometer von Pristina entfernt, inspizieren. Theoretisch sollen die Gefangenen ab 2023 nach dänischen Standards untergebracht werden.
Nach dem Weihnachtstrip der dänischen Offiziellen dürften die Gefangenen genauso dem Vergessen der europäischen „Wertegemeinschaft“ anheimfallen wie Julian Assange. Der Wikileaks-Gründer, seit über 4000 Tagen in Großbritannien ohne jede Rechtsgrundlage in Isolationshaft im „britischen Guantánamo“, hatte in der Vorweihnachtszeit einen Schlaganfall und musste ein Urteil hinnehmen, dass seine Auslieferung in die USA sehr wahrscheinlich macht. Der EU-Parlamentarier Martin Sonneborn hat die wertebewusste Annalena Baerbock um eine Stellungnahme gebeten. Sie müsse sich erst mit der Materie vertraut machen, sagte die Grünen-Außenministerin. Es gab keinen weiteren Kommentar, und auch sonst erhob niemand seine Stimme für Assange. Europa ist im moralischen Lockdown. Niemand weiß, wann er enden wird.