Berlin - Mit rauer Stimme und gewohnter Souveränität kommentiert Hans-Dietrich Genscher seinen ungewohnten Auftritt: „Es ist ein neues Gefühl, ins Thomas-Dehler-Haus gerollt zu werden“. So dämpft der 88-jährige ein wenig den gelinden Schrecken des Publikums, das sich dicht an dicht im Atrium der Berliner FDP-Zentrale drängt. Nach Helmut Schmidt (96) und Helmut Kohl (85) haben Alter und Krankheit auch den letzten der drei großen alten Männer der deutschen Politik in den Rollstuhl gezwungen. Aller erheben sich von ihren Plätzen - aus Ehrerbietung und weil sie den alten Herrn sehen wollen.
Vor der offiziellen Feier im Auswärtigen Amt am Freitag hat Hausherr Christian Lindner ihm einen kleinen liberalen Festakt organisiert. Am 12. September vor 25 Jahren hat Genscher gemeinsam mit den Außenminister der USA, der UdSSR, Großbritanniens, Frankreichs und der gerade noch existierenden DDR den Zwei-plus-vier-Vertrag unterzeichnet. Offiziell: „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. Damit gaben die Alliierten des Zweiten Weltkriegs den Weg zur Wiedervereinigung frei.
Genscher ohne gelben Pullunder
Auf einer großen Leinwand im klassischen FDP-Gelb ist im passenden Blau der historische Schriftzug des einstigen Außenministers zu lesen. Damit auch die neue FDP seines jungen Nachfolgers zu ihrem Recht kommt, steht auf dem Rednerpult „25 Jahre 2+4-Vertrag“ - in Magenta, das Christian Lindner dem „Corporate Design“ der Freien Demokraten hinzu gefügt hat. Genscher wiederum hat die gelben Pullunder weg gelassen, den er auf Parteiveranstaltungen trägt. Hier ist er nicht Ehrenvorsitzender, sondern Außenminister. Soviel Protokoll muss sein.
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Ein bisschen mehr als nötig preist der Genscher-Biograf Hans-Dieter Heumann den 88-jährigen. Folgt man dem Diplomaten, dann hat Helmut Kohl im politischen Prozess, der zur internationalen Absicherung der Einheit führte, nur eine Nebenrolle gespielt. Und nicht immer eine gute. So tief geht Christian Lindners Verbeugung nicht. Ganz Realpolitiker lobt der FDP-Chef den „Genscherismus“. Das heute längst vergessene Schimpfwort für den ausgleichenden Kurs des deutschen Außenminister könne heute zum Vorbild dienen. Einen „Entgifter“ wie Genscher empfiehlt er - um aktuell auch mit Russland wieder ins Gespräch zu kommen.
„Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange.“
Dann schlägt der Geehrte den großen historischen Bogen. Im Auto von Hannover kommend, sei sein Blick auf das Ortsschild „Lehnin“ gefallen, berichtet Genscher. Dort ist er als Soldat auf dem Weg in die amerikanische Gefangenschaft vorbeimarschiert. Was für ein Weg zu jener europäischen Friedensordnung, zu der er beigetragen hat. En Erbe, das heute wieder gefährdet ist.
Dem Geist des Ortes und seinen Vorgängern in der Partei erweist er durch die Erinnerung an deren politische Weitsicht Referenz. „Immer neue Deutschland-Pläne“ habe die FDP während des Kalten Krieges vorgelegt - für einen Weg zur Wiedervereinigung „unter dem Dach der vier Mächte“. Wie es dann auch gekommen ist. Mit großer Leidenschaft ruft Genscher dazu auf, „endlich Schluss mit den Atomwaffen“ zu machen. Es werde immer schwerer zu verhindern, dass sie falsche Hände gerieten: „Noch ist Zeit, aber nicht mehr lange.“
Aber bei allem „Kummer“ den ihm die Weltlage bereitet, sieht der Grandseigneur Zeichen, die ihn hoffnungsvoll stimmen. Wie die Deutschen heute mit den Flüchtlingen umgingen, die in so großer Zahl uns zu uns kommen, das lässt ihn im hohen Alter zum Schluss kommen“. „Ja, unser Volk ist ein Volk des guten Beispiels geworden.“ Da wird seine Stimmer noch etwas rauer als zu Beginn. Stehende Ovationen.