Das feministische Erbe der DDR

Die Verlegerin Katrin Rohnstock und die Beraterin für digitale Strategie Anne Wizorek über das feministische Erbe und die patriarchalischen Strukturen in der DDR. 

Berlin-Katrin Rohnstock, 58, nimmt am Tisch  Platz. Nach anfänglichem Zögern hat sie dem Streitgespräch zugestimmt. Sie war in der DDR-Frauenbewegung aktiv, hat wie viele Ostfrauen aber ein Problem mit dem Wort Feministin. Neben ihr sitzt Anne Wizorek, 38, bekannt wurde sie als Initiatorin des Hashtags Aufschrei, der vor einigen Jahren eine Debatte über Sexismus auslöste. Sie gilt seither als eine der wichtigsten Stimmen des modernen Feminismus. Sie ist auch in der DDR geboren. Die Aufnahme-App läuft, im Display erscheint der Ort: „Checkpoint Charlie“. Klingt gut, ist aber nicht ganz korrekt. Das Gespräch findet auf dem Dach des ewerks in Berlin-Mitte statt, die beiden Frauen treffen sich zum ersten Mal.

Katrin Rohnstock (links) und Anne Wizorek (rechts) - zwei Frauen mit DDR-Prägung aus verschiedenen Generationen.
Katrin Rohnstock (links) und Anne Wizorek (rechts) - zwei Frauen mit DDR-Prägung aus verschiedenen Generationen.

Frau Wizorek, in einem Interview hat die aus Chemnitz stammende frühere Eiskunstläuferin Katarina Witt gesagt, Ostfrau zu sein ist für sie ein Gütesiegel. Ist es das für Sie?

Anne Wizorek: Es ist ein Begriff, mit dem ich mich identifiziere, den ich aber auch ambivalent sehe. Es ist gut, dass mehr über die Erfahrungen von Ostfrauen geredet wird. Mich stört aber, dass diese Erfahrungen mitunter unhinterfragt glorifiziert werden. Ostfrauen werden als starke Frauen inszeniert, ohne zu gucken, warum diese Stärke zum Teil notwendig war und nicht nur reines Selbstbewusstsein. Zum Beispiel aus der Notwendigkeit, die Arbeit zu Hause und im Beruf zu bewältigen.

Katrin Rohnstock: Na und? Der Mensch ist immer das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Ich würde das Wort „Gütesiegel“ unterschreiben. In der DDR war die Sozialisation der Frauen, verglichen mit heute, privilegiert. Wir hatten eine gute Ausbildung. Die Frauen suchten sich Partner auf Augenhöhe. Viele meiner Kommilitoninnen bekamen schon während des Studiums Kinder. Wir konnten Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Sich beruflich zu entwickeln, eigenes Geld zu verdienen und Kinder aufzuziehen, das war selbstverständlich.

Wizorek: Meine Eltern haben auch so gelebt. Und trotzdem habe ich erlebt, dass meine Mutter von uns einfordern musste, uns alle im Haushalt einzubringen, damit das nicht nur an ihr hängen bleibt.

Rohnstock: Ihre Mutter hat aber immerhin was eingefordert. Im Vergleich zu Westdeutschland waren die Ostfrauen doch wesentlich emanzipierter.

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Foto: Berliner Zeitung/Paulus Ponizak
Katrin Rohnstock

...wird 1960 in Jena geboren. Ihre Mutter arbeitet in der Kombinatsleitung bei Carl Zeiss. Sie studiert Germanistik. Sie engagiert sich in der DDR-Frauenbewegung und gehört zu den Gründerinnen des Unabhängigen Frauenverbands im Dezember 1989.

... gründet 1998 das Unternehmen Rohnstock Biografien, das Biografien von Privatpersonen und Unternehmen schreibt und herausgibt. Parallel organisiert sie Erzählsalons.

...ruft 2012 einen Gesprächskreis ins Leben, in dem sich  Planer und Lenker der DDR- Wirtschaft zum Austausch treffen. Seit 2014 werden auch  westdeutsche Unternehmer eingeladen.

Der ganze Satz von Katarina Witt lautete übrigens: „Ich merke, dass ich viel freier, viel unabhängiger, viel liberaler und toleranter sein kann.“

Wizorek: Das würde ich so unterschreiben.

Rohnstock: Wunderbar entspannt und selbstbewusst. Beim Wort „frei“ denke ich sofort an körperliche Freiheit. Die Ostfrauen wurden nicht von dem Schönheitsdiktat einer Kosmetik-, Pharma-, Modeindustrie terrorisiert. In der DDR war Schönheit keine Ware – ein unglaublicher Vorteil einer Wirtschaft, die nicht zwanghaft auf Gewinnsteigerung ausgerichtet war. Heute haben immer mehr Frauen Essstörungen – Männer übrigens auch. In Partnerschaften tauschen junge Frauen Schönheit gegen das Geld alter Männer.

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Foto: Berliner Zeitung/Paulus Ponizak
Anne Wizorek

...wird 1981 in Rüdersdorf bei Berlin geboren. Ihre Mutter ist Maschinenbauingenieurin. Sie studiert in Berlin Literaturwissenschaften und Skandinavistik, schließt das Studium aber nicht ab. Heute arbeitet sie als Beraterin für digitale Strategien, Referentin und Autorin in Berlin.

...betreibt von 2013 bis 2018 das Blog kleinerdrei.org. Gemeinsam mit anderen Feministinnen erfindet sie auf Twitter das Hashtag #aufschrei, um unter dem Schlagwort Erfahrungen von Frauen mit sexueller Gewalt und Sexismus zu sammeln. Die Aktion löst Begeisterung und Kritik aus.
 
...veröffentlicht 2014 ihr Buch „Weil ein Aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute“.

Frau Wizorek, Sie erzählten gerade von ihren Eltern und davon, dass Ihre Mutter schon auch zu kämpfen hatte. Können Sie das noch etwas ausführen?

Wizorek: Auch die DDR war ein patriarchal geprägtes Land. Der Haushaltstag zum Beispiel, der einmal pro Monat gewährt wurde, war für die Frauen gedacht. Väter sollten zwar helfen, aber die Verantwortung blieb bei den Müttern. Da muss man nichts idealisieren. Die Drucksituation von Familienarbeit und Lohnarbeit war auch real. Das, was wir heute für Gesamtdeutschland unter dem Stichwort Vereinbarkeit diskutieren, passierte in der DDR schon früher. Wobei ich nicht weiß, ob es in der DDR auch eine wirkliche Debatte gab.

Rohnstock: In den Achtzigerjahren wurde der Haushaltstag auch alleinerziehenden Männern gewährt. Die Gleichstellungsstrategie in der DDR hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. In den Sechzigerjahren stellte man beispielsweise fest, dass sich das angestrebte gleiche Bildungsniveau bei Männern und Frauen nicht von allein durchsetzt. Deshalb richtete man Sonderstudiengänge ein, in denen Frauen w��hrend der Arbeitszeit ein Studium absolvieren konnten. Das haben viele genutzt. Meine Mutter qualifizierte sich so zur Ingenieur-Ökonomin. Und während sie arbeitete oder lernte, ging ich, die Zehnjährige, im Dorf-Konsum einkaufen und deckte den Abendbrottisch. „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht…“ – das war das Kinderlied dazu. In der DDR gab es weniger Etikette, mehr Offenheit. Bei der Arbeit konnten die Frauen offen darüber sprechen, wenn es ihnen mal nicht so gut ging: „Dann mach doch mal Pause“, war die freundliche Reaktion. Es war entspannter, weil es nicht diesen barbarischen Leistungsdruck gab.

Im Berliner Verlag gab es auch einen Frauenruheraum.

Rohnstock: Den gab es bei Zeiss in Jena auch, wo meine Mutter gearbeitet hat. Den nutzten die Frauen aber eher selten, weil sie „ihren Mann stehen“ wollten. Wenn es Männern schlecht ging, durften die sich übrigens auch hinlegen.

Frau Rohnstock, Sie waren im Dezember 1989 eine der Gründerinnen des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR. Damals wurde ein Manifest veröffentlicht, das die Lage der DDR-Frauen sehr kritisch beleuchtet. Darin steht der schöne Satz: „Wir wollen nicht länger die bescheidenen, unterbezahlten und für dumm verkauften Helferinnen und Mitarbeiterinnen sein, denen man zum 8. März ein Dankeschön überreicht.“ Was bewerten Sie Ihren Aufruf heute?

Rohnstock: Ich habe das neulich auch nachgelesen und gestaunt, wie DDR-kritisch wir damals waren. Die Frauen waren nicht in allen Bereichen anteilig vertreten. Tausendjährige patriarchale Strukturen sind nicht in wenigen Jahrzehnten aufzulösen. Und die entsprechenden Methoden fallen nicht vom Himmel. Vieles muss ausprobiert werden. Wir jungen Frauen wollten die Gesellschaft mitgestalten. Ab Mitte der Achtziger gab es in der DDR einen riesigen Reformstau, ähnlich wie heute übrigens. Heute sehe ich die DDR als großes Experiment, eine alternative Gesellschaft aufzubauen. Da wurden viele Fehler gemacht, doch vieles gelang auch als Gegenentwurf zum Westen.

Wo sehen Sie heute Reformbedarf?

Rohnstock: An allen Ecken und Enden. Doch der Kern ist die mangelnde Mitbestimmung. Seit vielen Jahren veranstaltet meine Firma sogenannte Erzählsalons – regelmäßig bei uns im Büro im Prenzlauer Berg, aber auch in der Lausitz, im Thüringer Wald, im Erzgebirge. Ich höre viele Geschichten – von Menschen verschiedener Generationen und Milieus. Deshalb kann ich sagen: Viele Ostdeutsche sorgen sich, wie die Probleme der Existenzsicherung, Mobilität, Pflege, Bildung und der Digitalisierung heute und zukünftig zu lösen sind. Die Menschen entwickeln durchaus Ideen, was sie vor Ort tun könnten. Doch sie stoßen überall an verkrustete, bürokratisierte Strukturen. Die Politik kann die anstehenden Probleme nicht allein lösen. Sie könnte aber Strukturen fördern, mit denen Bürgerbeteiligung unbürokratisch gelingen kann.

Sehen Sie das auch so, Frau Wizorek?

Wizorek: Ich würde noch die Klimakrise und die soziale Frage hinzufügen.

Rohnstock: Ja, stimmt, natürlich.

Wizorek: Ich würde etwas zum Thema Digitalisierung ergänzen. Einerseits hängt Deutschland technisch sehr hinterher. Andererseits werden die möglichen Vorteile nicht gesehen. Durch die Neuorganisation der Arbeit könnte man ja auch mal grundsätzlich die Norm der 40-Stunden-Woche in Frage stellen, weil sie uns körperlich und psychisch kaputt macht. Warum denkt man nicht über neue Arbeitsmodelle nach? Aktuell wird Digitalisierung sogar eher dazu genutzt, um uns noch mehr auszubeuten. Da werden E-Mails nach Feierabend geschickt und erwartet, dass man sie sofort beantwortet.

Das größte feministische Thema des vergangenen Jahres war der Kampf gegen den Paragrafen 219a. Um neue Arbeitszeitmodelle für Frauen und Männer ging es eher nicht. Warum ist das so?

Wizorek: Diese Hierarchisierung finde ich schwierig, da die sexuelle Selbstbestimmung ein zentrales Thema ist. Die Wahrnehmung von Kampagnen hat auch damit zu tun, wie mediale Aufmerksamkeitsökonomie allgemein funktioniert. Schauen Sie sich zum Beispiel die Arbeit der Care Revolution an. Da geht es darum, dass man mehr Zeit hat für seine Angehörigen, aber auch für sich. Mehr Life-Work-Balance.

Sie haben 2013 unter dem Hashtag Aufschrei eine Diskussion über Sexismus losgetreten. Können Sie bilanzieren, was sich seitdem getan hat?

Wizorek: Wir hatten auf unserem Blog Kleinerdrei.org einen Bericht über sexuelle Belästigung auf der Straße publiziert, den hat unsere Leserin Nicole von Horst auf Twitter kommentiert und mit eigenen Erfahrungen ergänzt. Ich habe dann den Hashtag Aufschrei vorgeschlagen, um diese Beiträge zu bündeln. Gerade Frauen schrieben dann über ihre eigenen sexistischen Erfahrungen. Das fiel mit der Veröffentlichung eines Stern-Artikels über das sexistische Verhalten des FDP-Politikers Rainer Brüderle zusammen. Für mich war es eine wichtige, aber auch anstrengende Zeit, weil ich selbst auch viel sichtbarer geworden bin.

Wurden Sie angegriffen?

Wizorek: Ja, das ging von frauenfeindlichen Beleidigungen bis zu anonymen Morddrohungen. Kommentare unter Interviews mit mir lese ich schon lange nicht mehr. Mittlerweile ist die Aufklärung über digitale Gewalt auch ein Schwerpunkt meiner Arbeit geworden.

Nach #Aufschrei kam #MeToo. Hatten Sie da ein Déjà-vu?

Wizorek: Ja. Ich fand aber gut, dass es den Betroffenen über das „Me too“-Sagen hinaus selbst überlassen wurde, wie viel sie davon erzählen, weil es in erster Linie um den Heilungsprozess geht. In der medialen Debatte wurde das allerdings weniger beachtet.

Haben Sie einen Bezug zu diesen Sexismus-Debatten, Frau Rohnstock?

Rohnstock: Ich fand es wichtig, dass durch die MeToo-Debatte Abhängigkeits- und Machtverhältnisse transparent wurden. Schwierig finde ich, dass Männer so pauschal angegriffen werden. Unsere Nachbarin erzählte mal, wie sie zu DDR-Zeiten von ihrem Chef getätschelt worden ist. Sie sagte: „Hör auf, ich will das nicht.“ Als das auch beim dritten Mal nichts brachte, hat sie ihm die Faust auf die Nase gedrückt. Er hat geschluckt. Danach hatten sie ein entspanntes Verhältnis.

Das würden sich nicht alle Frauen trauen.

Rohnstock: Ja, das war sehr wehrhaft.

Wizorek: Die Schilderungen bei #MeToo und #Aufschrei haben außerdem gezeigt, dass Frauen, die sich wehren, mitunter nur stärker unter Druck geraten. Sie wurden aus dem Job gemobbt oder erfuhren noch mehr Gewalt.

Rohnstock: Weil es um Abhängigkeiten geht. Heute könnte das meine Nachbarin nicht mehr so machen, weil sie dann rausfliegen würde. In der DDR konnte man nicht entlassen werden. Dadurch entstand ein Grad an Freiheit.

Finden Sie, dass Frauen sich drastischer wehren sollten, Frau Rohnstock?

Rohnstock: Ja, aber nicht so, dass das Geschlechterverhältnis darunter leidet. Das ist ein Vorwurf, den ich dem Feminismus mache. Frauen brauchen Männer, Männer brauchen Frauen. Ich würde lieber nach emanzipatorischen Verhaltensweisen Ausschau halten, die verhindern, dass Mauern zwischen den Geschlechtern hochgezogen werden. Wenn ich zum Beispiel in unserem Kombinatsdirektoren-Salon die frühere Generaldirektorin vom Kosmetik Kombinat Berlin, Christa Bertag, im Kreis gleichrangiger Männer erlebe, dann sehe ich Lockerheit, Witz, Klarheit und Souveränität. Das imponiert mir. Ich wünsche mir mehr Mütterlichkeit in unserer Gesellschaft, für Frauen und Männer. Die Frauen schreien auf, ja, aber was bringt das? Sie bleiben in der Rolle der Unterdrückten, als Opfer.

Aber nicht alle Frauen wollen in der Arbeitswelt mütterlich sein!

Wizorek: Ich finde es bezeichnend, dass bei dieser Diskussion immer das Verhalten der Frauen im Fokus steht. Mütterlichkeit und Schlagfertigkeit sind Überlebensstrategien, und dass das nicht in Frage gestellt wird, finde ich problematisch. #MeToo und #Aufschrei waren auch Chancen für Männer, ihr Verhalten zu reflektieren, und manche machen das auch, die Mehrheit aber nicht.

Viele Männer sind verunsichert und wissen nicht mehr, was sie dürfen und was nicht.

Wizorek: Aber eine Verunsicherung ist gut, weil da etwas in Bewegung kommt und das klassische Männlichkeitsbild in Frage stellt. Wenn wir von Mauern sprechen, die hochgezogen werden, dann sehe ich die eher bei Männern. Sie verwehren sich dagegen, dass dieses Thema irgendwas mit ihnen zu tun haben könnte. In Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner ermordet, das sind nicht nur schief gegangene Flirtversuche, dahinter steckt etwas Strukturelles. Und darüber müssen wir sprechen.

Rohnstock: Das zeigt große Hilflosigkeit. Wir erleben im Moment einen enormen Geschlechterrollenwandel. Männer können und brauchen die Familienernährer-Rolle nicht mehr auszufüllen. Doch welche gesellschaftlich wichtige Aufgabe ersetzt diesen Verlust?

Wizorek: Aber es kann ja positiv sein, von dieser Last des Ernährers befreit zu werden!

Rohnstock: Unbedingt. Aber was füllt diese Leerstelle? Der Rollentausch ist es nicht. In unserem Buch „Aus der Bahn geworfen“ haben wir gesehen, dass die Hausfrauenrolle Männer genauso wenig befriedigt und sie krank macht wie Frauen. Und Männer, die arbeitslos sind oder es werden, woher beziehen die ihre Anerkennung? Klar, sie könnten in die SPD eintreten oder sich gesellschaftlich engagieren. Doch offenbar sind diese Angebote nicht mit ihren Bedürfnissen kompatibel. So entsteht ein Vakuum, das von rechts außen gefüllt wird. Die spärlichen Männergruppen sprechen eher ein bürgerliches, großstädtisches Milieu an. Für Handwerker, Arbeiter in der Provinz sind das Milchreis-Bubis. Da wächst ein großes Risiko für die Gesellschaft. Der Täter von Halle war ein einsamer junger Mann – wie alle Amokläufer übrigens.

Wizorek: …die dann aber vor allem über rechte Netzwerke im Internet radikalisiert werden.

Rohnstock: Ja, das ist das einzige Identifikationsangebot, das den jungen Männern gemacht wird.

Wizorek: Dass ausgerechnet Männer dafür so anfällig sind, hat aber auch mit unseren Vorstellungen von Männlichkeit zu tun. Der Anschlag von Halle zeigt, wie Antisemitismus, Antifeminismus und Rassismus zusammenwirken.

Patriarchal oder gleichberechtig? Anne Wizorek (links) und Katrin Rohnstock (rechts) diskutieren das Frauenbild der DDR und heute.
Patriarchal oder gleichberechtig? Anne Wizorek (links) und Katrin Rohnstock (rechts) diskutieren das Frauenbild der DDR und heute.

Was könnten das für Angebote für Männer sein?

Wizorek: Es sollte nicht erst bei Erwachsenen ansetzen, man sollte schon mit geschlechtersensibler Pädagogik im Kindergarten beginnen. Da geht es ja schon los, wenn in rosa und hellblau geteilt wird. Da wird das Machtgefälle schon zementiert, weil Mädchen und Jungs in bestimmte Rollen gedrängt werden und Jungs nicht ihre verletzliche Seite leben können.

Rohnstock: Nur mit Geschlechtersensibilisierung ist es nicht getan. Der Individualismus, das Fehlen von Gemeinschaften, die Einsamkeit ist ein großes Problem. Wir haben Jugendliche in der Lausitz in einem Erzählsalon gefragt: „Was könnt ihr für die Zukunft eures Ortes tun?“ Sowohl rechte als auch linke Jugendliche wünschten sich einen Jugendtreff. Sie hatten versucht, ein leerstehendes Haus dafür zu sanieren, wurden aber rausgeschmissen, weil die Besitzverhältnisse nicht geklärt waren. Junge Männer haben Kraft und Energie, die sie ausleben müssen. Wo aber sind Wirkungsmöglichkeiten? In strukturschwachen Räumen gibt es Tausende leerstehende Häuser, warum lassen wir die nicht von jungen Männern sanieren und gemeinschaftlich nutzen? Es muss wieder Orte der Gemeinschaft geben. Jemand, der Freundschaften pflegt, mit anderen Skat spielt, ein Beet umgräbt oder in Projekte eingebunden ist, wird kein Amokläufer.

Wizorek: Ich weiß nicht, ob man das so pauschal sagen kann. Rechte Gruppen haben auch ihr Modell von Kameradschaft.

Sie sind beide Frauen, die versuchen, andere Menschen zum Reden zu bringen. Wie groß ist die Wirkung des Erzählens?

Rohnstock: Erzählen ist ein Wundermittel. Beim Erzählen reflektieren wir unser Leben, lernen Widersprüche auszudrücken, verarbeiten Frust, stabilisieren das Selbstwertgefühl, versichern uns unserer Potenziale. Großartig.

Aufarbeitung ist eher eine Frauensache, oder?

Rohnstock: Nein, das erleben wir nicht so. In die Erzählsalons kommen genauso Männer wie Frauen. Uns haben Müllmänner, Wismut-Kumpel, Glasbläser und Steinmetze genauso ihre Geschichte erzählt wie Krankenschwestern, Künstlerinnen und Gewerkschafterinnen. Auch ihre Autobiografie lassen inzwischen gleichviel Frauen wie Männer schreiben. Aber es gibt Milieu-Unterschiede. Im Westen habe ich Frauen kennengelernt, die nach 60 Jahren bürgerlicher Ehe kaum erzählen konnten, weil sie von ihren Männern ständig unterbrochen und verbessert wurden. Sie konnten keinen eigenen Gedanken formulieren. Aus der DDR kenne ich so etwas nicht.

Würden Sie sagen, dass seit 1989 Frauen und Männer weniger miteinander reden?

Rohnstock: Nun, wer einen Job hat, hat weniger Zeit und muss auch die Kommunikation effizient gestalten.

Zum Stand der Emanzipation der deutschen Frau heute gibt es eindeutige Zahlen: 90 Prozent aller Frauen zwischen 30 und 50 Jahren verdienen laut Bundesfamilienministerium weniger als 2 000 Euro netto im Monat. Fast ein Drittel aller Frauen in Deutschland zahlen null Cent in eine private Altersvorsorge ein. Haushalts- und Familienarbeit liegen immer noch zu zwei Dritteln in der Hand von Frauen. Wie weit sind Frauen denn seit 1989 gekommen?

Rohnstock: Viele Ostfrauen haben sich enorm entwickelt. Durch ihr Selbstverständnis, gleichwertig zu sein, konnten sie durchaus eingefahrene westdeutsche Verhaltensmuster unterwandern. Bestes Beispiel ist Frau Merkel. Doch insgesamt hat sich das Geschlechterverhältnis von einer emanzipatorischen Partnerschaft – gleiche Bildung, gleiches Geld – auseinanderentwickelt.

Nehmen Sie das auch so wahr?

Wizorek: Wir haben generell einen Abbau solidarischen Verhaltens, nicht nur im Geschlechterverhältnis. Der Anteil der Frauen im Bundestag ist extrem niedrig, da können wir uns nicht nur auf Angela Merkel ausruhen, das reicht mir nicht. Was ich schon sehe: Männer wollen gerne mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, scheitern aber mitunter an den gleichen Hindernissen, an denen Frauen schon gescheitert sind. Ich kenne viele Geschichten von Männern, die mehr als die üblichen zwei Monate Elternzeit nehmen wollten und wo der Chef sagte: Dann kannst du gleich gehen. Ich komme wieder zu meiner Frage zurück: Müssen wir alle so viel arbeiten, bis wir vor Erschöpfung umfallen? Wir sollten grundsätzlich den heutigen Status Quo in Frage stellen.

In der neuen Shell-Jugendstudie sagen 54 Prozent der Befragten, dass sie das männliche Hauptverdiener-Modell bevorzugen. Befinden wir uns da in einer Phase der Traditionalisierung?

Rohnstock: Was die jungen Leute vermeiden wollen, ist dieser Vereinbarkeitsstress, der entsteht, wenn man Haushalt, Kinder, Partnerschaft, Beruf und Weiterbildung miteinander vereinbaren muss – und Großeltern nicht unterstützen können. Deshalb verzichten viele Akademikerinnen auf Kinder. Frau arrangiert sich mit den Verhältnissen.

Aber warum ist es fast immer die Frau, die zurücksteckt?

Rohnstock: Die jungen Mütter wollen Zeit mit ihren Kinder verbringen. Deshalb wollen sie verkürzt arbeiten. Doch es fehlen Halbtagsstellen. Meine Tochter, die Soziologie und Germanistik studiert hat, findet keine Stelle für 20 Wochenstunden.

Wizorek: Es gibt auch zu wenig positive Rollenvorbilder, wo man sieht, dass es entspannt geht. Ich sehe das auch in meinem Umfeld: Sobald Kinder da sind, ist eine gleichberechtigte Partnerschaft kaum noch möglich.

Wie stellen Sie sich Deutschland im Jahr 2029 vor?

Wizorek: Ich wünsche mir eine repräsentative Demokratie, die den Namen verdient, in der Menschen verschiedener sozialer Herkunft und Geschlechteridentität zu finden sind. Außerdem haben wir endlich die Abschaffung von Paragraf 218 erreicht, also freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen.

Rohnstock: Die Industrialisierung hat die Menschen in „Leistungsfähige“ und „Nicht-Leistungsfähige“ zerteilt. Wer nicht (mehr) leistungsfähig ist, wird separiert: Alte Menschen werden in Pflegeheime gesteckt. Wer schwächelt, wird ausgegrenzt. Diese Trennung muss verschwinden. Wir müssen uns fragen: Wie wollen wir in Zukunft wirtschaften? Wie können wir neue Entwicklungen nutzen, um die Gesellschaft umzubauen. Es braucht eine Transformation in größere Gemeinschaften, damit endlich wieder das Wir im Vordergrund steht.