Die Republik Moldau, das kleine Nachbarland der Ukraine, hat bereits 300.000 Kriegsflüchtlinge aufgenommen und ist an seiner Belastungsgrenze angekommen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat Hilfe zugesagt. Die Menschen sollen mit einer Luftbrücke über Europa verteilt werden. Vor Ort versucht die private Hilfsorganisation Be an Angel, die Menschen mit dem Allernötigsten zu versorgen. Vereinsvorstand Andreas Tölke über die Situation.
Herr Tölke, Sie sind in Moldau, wo genau?
Ich bin in Chisinau, das ist die Hauptstadt von Moldawien, etwa 150 Kilometer von Odessa entfernt. Der am meisten von Flüchtenden aufgesuchte Grenzübergang in der Nähe ist Palanca. Der ist etwa 100 Kilometer – zwei Stunden mit dem Auto – entfernt.
Wie hat Ihr Tag heute angefangen?
Der Tag hat nicht angefangen, weil die Nacht nicht aufgehört hat. Ich bin jetzt seit zehn Tagen hier und habe pro Nacht etwa vier Stunden Schlaf.
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Das ist nicht viel. Wie ist in Moldawien die Situation für Geflüchtete?
Jetzt muss ich einmal kurz durchatmen: katastrophal! Die Moldawische Regierung gibt wirklich ihr Bestes. Sie ist vor vier Monaten neu gewählt worden. Es sind wahnsinnig tolle, junge Politiker und Politikerinnen, die aber mit der Situation, wie auch die deutsche Regierung, völlig überfordert sind.

Worin besteht die Überforderung genau?
Das Land hat weniger Einwohner als Berlin, etwa 2,6 Millionen Menschen. Ganz viele Moldawier haben privat Menschen aufgenommen. Der Durchschnittsverdienst eines moldawischen Arbeiters liegt bei 600 Euro. Bei einer Miete von 200 Euro kommen noch etwa 100 Euro Heizkosten dazu. Da kann man sich vorstellen, wie arm die Menschen hier sind. Durch die Überforderung und dieses Nicht-Wissen, wann dieser fürchterliche Krieg beendet ist, fragen sich die Moldawier, wie lange die Menschen wohl bleiben werden und wie sie sie ernähren sollen. Vor zwei Tagen ist in einer großen Supermarktkette das Salz ausgegangen – für Deutschland nicht vorstellbar. Die moldawische Regierung hat uns gebeten, die Familien, die Geflüchtete aufgenommen haben, zu entlasten.
Wie ist die Stimmung gegenüber den Menschen, die da kommen?
Es gibt eine unglaublich große Hilfsbereitschaft – wie in Polen und in Deutschland – aber auf der Grundlage einer nicht vorhandenen ökonomischen Basis.
Alle Geflüchteten werden privat untergebracht?
Nein. Es gibt zusätzlich sechs große Camps, Sportarenen eigentlich, in denen jeweils 500 oder 600 Menschen auf Feldbetten schlafen. In Kasernen wurden Menschen untergebracht, und dazu gibt es noch 26 kleinere Camps mit jeweils etwa 40–60 Menschen. Die Unterbringung ist von miserabel bis okay, das Essensangebot von unerträglich bis geht so. Teilweise werden die Camps nur einmal am Tag mit Essen versorgt.
Wie sieht es an der Grenze aus?
Die Grenze ist von sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens geschlossen. Ich war an der Grenze. Es kommen den ganzen Tag über Menschen – bei minus zwei, drei Grad und Schneesturm. Heute Nacht sind zehn Menschen auf der ukrainischen Seite an der Grenze erfroren, wegen der langen Wartezeiten und der nicht vorhandenen Versorgung. Die nächsten Zelte, in denen sich die Menschen mal aufwärmen können, stehen weitere zwei, drei Kilometer entfernt.
Wie geht es dann weiter, gibt es Busse, um die Menschen weiterzubefördern?
Es gibt einen unregelmäßigen Shuttleservice. Das ist ein Nadelöhr. Es gibt keine funktionierenden Strukturen. Wir von Be an Angel versuchen gerade, einen richtigen Shuttleservice zwischen der Grenze und der Hauptstadt zu initiieren. Wenn die Menschen in der Hauptstadt ankommen, versuchen wir, einen Teil weiter mit Bussen nach Deutschland zu schicken. Das sind täglich zwei Busse, wir hatten aber auch schon Tage mit fünf Bussen. Wir fahren auch die einzelnen Camps ab. Wir haben einen Ansprechpartner bei der Regierung, der uns sagt, wo Menschen sind, die nach Deutschland wollen. Die meisten Ukrainer hoffen darauf, dass der Krieg bald endet, und wollen in der Nähe der Grenze bleiben, damit sie dann nach Hause können. Das ist auch in Polen so. Das führt natürlich dazu, dass die Anrainerstaaten völlig überfordert sind.
Was kommen für Menschen?
Wie du und ich. Hauptsächlich Frauen und Kinder. Ganz wenige Männer. Aber auch alte Leute – das älteste Paar, das wir in einem unserer Busse begrüßen durften, war 82 und 85 Jahre alt.
Wie läuft das ab, fahren Sie einfach hin zu einem Camp und nehmen mit, wer gerade da ist?
Nein, nein, nein. Am Anfang haben wir einmal so einen Fehler gemacht. Der Bus wurde gestürmt. Wir haben jetzt Listen mit Namen von Menschen, die sich angemeldet haben, um mit uns nach Deutschland zu fahren. In Deutschland fragen wir tagesaktuell ab, wo Kapazitäten für die Aufnahme sind. Wir fahren Berlin nicht mehr an, denn da kommen schon zu viele Menschen an. Wir fahren nach Wiesbaden, Sulzbach, Düsseldorf, wir fahren in ganz Deutschland Städte an. Die Fahrt dauert 36 Stunden. Das ist die Zeit, in der wir organisieren, wo die 59 Menschen aus unserem Bus aufgenommen werden. Teilweise sind es Aufnahmelager, es sind aber auch viele Privatleute dabei.

Wie kontrollieren Sie, wer da bei Ihnen einsteigt?
Wir machen einen Check-in beim Einstieg am Bus. Wir nehmen nur diejenigen mit, die auf unseren Listen stehen und die sich mit einem Pass ausweisen können. Andernfalls würden wir das ganze Transportsystem aufs Spiel setzen.
Wie viele Busse und Mitarbeiter haben Sie, um das zu bewältigen?
Wir sind hier in Chisinau zu dritt. Dabei ist ein Deutscher, der mit einer Moldawierin verheiratet ist. Es ist auch ein ehemaliger russischer Offizier dabei, der mit der Politik von Putin nicht einverstanden ist. In Berlin haben wir ein vierköpfiges Team, das zusätzlich zu unserer übrigen Arbeit diese Einsätze vorbereitet. In Polen koordiniert eine Person ungefähr 15 Fahrer.
Das Technische Hilfswerk will jetzt Feldbetten und Schlafsäcke nach Moldawien bringen. Haben Sie die schon gesehen?
Nein. Ich habe einmal einen einzelnen Wagen des UNHCR gesehen. Sonst haben wir keine andere Organisation bemerkt.
Was sind die wichtigsten Dinge, die gebraucht werden?
Nahrungsmittel. Wir haben seit 15 Stunden einen Transport mit zehn Lkw an der rumänisch-moldawischen Grenze stehen und kämpfen darum, dass sie reingelassen werden. Das ist ein rumänisches Problem. Wir hatten so etwas aber auch schon in Bayern.
Wir finanzieren Sie das alles?
Aus Spenden. Wir hatten Großspender am Anfang, die uns eine gute Basis verschafft haben. Aber die schmilzt. Ein Bus mit 59 Plätzen kostet uns 150 Euro pro Person – etwa 8000 Euro zusammen. Da müssen drei Fahrer bezahlt werden. Wenn wir in dem bisherigen Tempo weitermachen, sind wir in zehn Tagen am Ende unserer Finanzmittel. Jetzt liegt der Kontostand noch etwa bei 320.000 Euro. Hört sich nach einer irrsinnig großen Menge Geld an, geht dann aber doch sehr schnell runter.
Am Sonnabend war die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Moldawien. Sie sichert drei Millionen Euro an Hilfen zu und will eine Luftbrücke und einen Buskorridor etablieren. Haben Sie Frau Baerbock gesehen?
Nein, dazu habe ich keine Zeit. Die Luftbrücke finde ich lobenswert, aber da finden etwa 2500 Menschen Platz. Die Zahl erreichen wir Ende der kommenden Woche auch.
Die Organisation Be An Angel kann mit Spenden unterstützt werden: http://beanangel.direct/spenden/