Katastrophe mit Ansage: Warum die Erdbeben in der Türkei und Syrien so stark sind
Lange hatte es in der betroffenen Region keine starken Erdbeben mehr gegeben. Die Ruhe war trügerisch. Warum, das erklären Forscher mit der Plattentektonik.

Die verheerenden Erdbeben in der Südtürkei und in Nordsyrien sind Ereignisse, die lange angekündigt worden waren. Man wusste nicht, wann und wo es genau passieren würde: Aber vor einer bevorstehenden großen Katastrophe in dieser Region wurde seit langem gewarnt.
Der Grund: Hier stoßen in der Erdkruste mehrere Kontinentalplatten aufeinander. Der größte Teil der Türkei liege auf der Anatolischen Platte zwischen zwei großen Verwerfungen, heißt es im Fachjournal Nature. Mit Verwerfungen sind Störungszonen gemeint, dort, wo Platten aufeinandertreffen. Die sogenannte Ostanatolische Verwerfung liegt genau dort, wo jetzt die verheerenden Erdbeben aufgetreten sind.
Hier schiebe sich die Arabische Platte, auf der Syrien liegt, nach Norden in Richtung der riesigen Eurasischen Platte, erklärt der britische Geowissenschaftler David Rothery von der Open University in Milton Keynes. Dabei werde die kleinere Anatolische Platte, auf der die Türkei liegt, nach Westen gedrückt, wobei große Spannungen entstehen. „Die Türkei bewegt sich entlang der Ostanatolischen Verwerfung etwa zwei Zentimeter pro Jahr nach Westen“, sagt Rothery. Die halbe Länge dieser Verwerfung sei jetzt von Erdbeben betroffen.
Pro Jahr bewegen sich die tektonischen Platten wenige Zentimeter
Als Plattentektonik bezeichnet man großräumige Vorgänge in der sogenannten Lithosphäre, der Erdkruste und dem oberen Erdmantel. Sie reicht bis in eine Tiefe von 60 bis 210 Kilometern und ist in relativ starre Erdplatten aufgeteilt. Diese „schwimmen“ auf der sogenannten Astenosphäre, die 1000 bis 1400 Grad Celsius heiß und plastisch verformbar ist, zum Teil auch Magma enthält. Auf ihr sind die Kontinente ständig in Bewegung, wodurch sich das Gesicht der Erde in Jahrmillionen immer wieder verändert.
Es gibt sieben große und etwa 50 kleine tektonische Platten, wie eine Liste von 2003 zeigt. Pro Jahr bewegen die Platten sich meist nur wenige Zentimeter. Dabei entstehen mit der Zeit an Plattengrenzen oft gewaltige Spannungen. Durch die Reibung kann der Druck zu groß werden, Platten können sich verhaken. Diese Spannungen entladen sich dann mit einem Ruck. Es kommt zu Erdbeben.
Dass diese im jetzt betroffenen Gebiet sehr heftig sein können, haben Forscher seit Jahren vorausgesagt. In den vergangenen hundert Jahren – seit einem letzten großen Beben von 1905 – sei die seismische Aktivität entlang der Ostanatolischen Verwerfung „ungewöhnlich ruhig“ gewesen, heißt es in einer Erklärung des Deutschen Geoforschungszentrums (GFZ) Potsdam.
Eine lange trügerische seismische Ruhe
„Die gesamte Zone hat also über diesen langen Zeitraum Spannungen aufgebaut“, und es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es zu starken Erdbeben kommen würde. Die lange „seismische Ruhe“ hatten Forscher damit erklärt, dass die Verwerfung blockiert sei. Irgendwann musste sich die Blockade aber lösen.
Die Erdbeben in der syrisch-türkischen Grenzregion hatten Stärken von 7,8 und 7,5, wie Nature schreibt. Es gab mehr als 200 Nachbeben. Die Stärke von Erdbeben wird mit der sogenannten Richterskala beschrieben. Ab Stufe 5 wird es gefährlich, hier tragen anfällige Gebäude bereits deutliche Schäden davon. Ab Stufe 6 spricht man von starken Erdbeben mit Zerstörungen in besiedelten Gebieten. Ein Beben ab Stärke 7 ist dagegen schon zehnmal so stark. Es verursacht schwere Zerstörungen und fordert Opfer über weite Gebiete. So wie man es leider zurzeit im türkisch-syrischen Grenzgebiet sieht.
Forscher-Warnungen auch für die 16-Millionen-Stadt-Istanbul
Durch die „akkumulierte Energie“ könnte es in den nächsten Wochen und Monaten in der Ostanatolischen Verwerfung zu weiteren Beben kommen, so die Forscher. Manche sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer möglichen Gefahr für die 16-Millionen-Stadt Istanbul, für die seit einiger Zeit ein großes Erdbeben befürchtet wird. Doch das GFZ teilt dazu mit: „Aufgrund der großen Entfernung ist es unwahrscheinlich, dass dieses Erdbeben die Region Istanbul beeinflusst oder zu starken Erdbeben führt.“
Denn Istanbul liegt nicht an der betroffenen südöstlichen Region der Türkei, sondern viel nördlicher, an der Nordanatolischen Verwerfung. Hier schrammt die Anatolische Platte an der Eurasischen Platte in Richtung Westen. Und hier gab es bereits im vergangenen Jahrhundert eine Reihe von Erdbeben. Man weiß, dass Istanbul in großer Gefahr ist, aber nicht, wann es zu einem Beben kommen wird.
Die Sorge um Istanbul wurde erst jüngst genährt durch ein Beben, das sich am 23. November 2022 bei Düzce ereignete, etwa 200 Kilometer von Istanbul entfernt. Die Geologen waren überrascht, denn es hatte dort erst 1999 gebebt. Man hatte geglaubt, die Spannungen seien damit für lange Zeit abgebaut. 1999 hatte sich auch in der Region von Izmit und Gölcük – nicht weit von Istanbul – ein besonders verheerendes Erdbeben der Stärke 7,6 ereignet. Mehr als 18.000 Menschen kamen ums Leben, etwa 250.000 wurden obdachlos.
Beunruhigendes fand auch ein Forscherteam um die Geophysikerin Patrizia Martínez-Garzón vom GFZ. Gerade erst veröffentlichte es eine Studie, erschienen im Fachjournal Geophysical Research Letters. Mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) hatten die Forscher viele kleinere, bislang in den Messdaten verborgene Erdbeben aus dem Marmarameer südlich von Istanbul analysiert. Sie stellten fest, dass schon Meeresspiegelschwankungen seismische Effekte haben. Die Verwerfungen im untersuchten Gebiet könnten so groß sein, dass bereits die Änderung des Meeresspiegels durch die Gezeiten Erdbeben auslösen könnten.
„Ich warne Istanbul!“, sagte gerade der türkische Geologe Celal Sengör dem Sender Habertürk. Einer Studie zufolge könnte bei einem starken Erdbeben in Istanbul etwa jedes zweite Gebäude betroffen sein. Es könnte – je nach Tageszeit – 40.000 bis 100.000 Todesopfer fordern.