Es sind nur zwei Buchstaben und ein Punkt, ein kleiner Unterschied, der alles anders macht. Die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey steht im wuchtigen Rathaus von Eisenhüttenstadt, der ersten Station ihrer Sommertour, umringt von Kameraleuten und Fotografen. Der Bürgermeister, Frank Balzer, schiebt ihr das Goldene Buch der Stadt hinüber, in das sich schon Helmut Kohl vor vielen Jahren eingetragen hat. Sie trägt sich ein, bedankt sich für den freundlichen Empfang, darunter schreibt sie: „Herzliche Grüße, Franziska Giffey“. Ohne Dr.
Den Titel lässt sie weg. Im vergangenen Jahr war sie auch auf einer Sommertour, hat sich in Goldene Bücher eingetragen, als Dr. Franziska Giffey. Damals war sie relativ neu im Bundesfamilienministerium, hatte einen riesigen, für viele überraschenden Karrieresprung hinter sich: von der Bezirksbürgermeisterin in Neukölln zur Bundesministerin, vom Rathaus ins Bundeskabinett. Sie galt als Hoffnungsträgerin, für die SPD, fürs ganze Land. Als Wunderwaffe, die für fast jedes Amt geeignet ist.
Seitdem ist einiges passiert: der Niedergang der SPD, der Weggang der Vorsitzenden Andrea Nahles, Plagiatsvorwürfe gegen Franziska Giffey. Franziska Giffey, geboren in Frankfurt (Oder), Tochter eines Kfz-Mechanikers und einer Buchhalterin, hat sehr hart und zielstrebig daran gearbeitet, um dahin zu kommen, wo sie ist. Sie war immer die Erste, jüngste Europabeauftragte Berlins, die jüngste Stadträtin, dazwischen hat sie ein Kind bekommen, eine Doktorarbeit geschrieben. Dann ging es weiter nach oben, Bürgermeisterin, Bundesministerin.
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Bundesfamilienministerin Franziska Giffey war stolz auf ihren Doktortitel
Sie war immer zur richtigen Zeit am richtigen Platz, als ein Posten zu vergeben war. Demnächst könnte sie alles verlieren, den Job, womöglich sogar die Partei. Die Unsicherheit überschattet die Reise durch Brandenburg und Sachsen kurz vor den Landtagswahlen, ist Gesprächsthema unter den mitreisenden Journalisten. Franziska Giffey sagt offiziell nichts zu dem Verfahren. Seit Monaten prüft eine Kommission der FU Berlin, ob Giffey in ihrer Doktorarbeit „Europas Weg zum Bürger“ schlampig zitiert hat. Wenn die Kommission entscheidet, dass sie den Doktortitel zu Unrecht erhalten hat, will sie als Bundesministerin zurücktreten. Das hat Giffey vorvergangene Woche ihrer Partei schriftlich mitgeteilt. Sie hat auch ihre Kandidatur als SPD-Vorsitzende abgesagt.
Als sie gleich nach dem Rathausbesuch in Eisenhüttenstadt darauf angesprochen wird, sagt sie nur: „Ich bin ja nicht weg, ich bin ja immer noch da. Ich werde weiterhin sozialdemokratische Politik machen.“ Sie habe noch viel vor, sagt sie und zählt die Projekte auf: Reform des Elterngeldes, Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Erzieherinnen und Erziehern, neue Demokratie-Förderprogramme. Sie wirkt nicht traurig darüber, sondern eher erleichtert, dass sie einen Weg gefunden hat, die Kontrolle zu behalten. Nicht aus dem Amt getrieben zu werden wie andere vor ihr.
Franziska Giffey war jemand, der stolz auf den Titel war. Sie hat früher im Bezirksamt Wert darauf gelegt, dass man sie damit ansprach. Im vergangenen Jahr erzählte sie im Gespräch mit der Zeitschrift Brigitte, wie sie die Doktorarbeit geschrieben hat, neben der Arbeit im Bezirksamt als Europabeauftragte. Mittendrin wurde sie schwanger. „Weil das Kind vier Tage zu früh kam, schaffte sie die letzten 20 Seiten erst hinterher, das erwähnt sie noch heute, wie einen kleinen Querschläger im sonst straffen Lebensplan“, heißt es in dem Text in der Zeitschrift.
Franziska Giffey staunt darüber, wie schön Eisenhüttenstadt saniert ist
Sie versucht, den Druck von sich fernzuhalten, konzentriert sich auf ihre Arbeit, will sich nicht beirren lassen. Am wohlsten fühlt sie sich im Gespräch mit den Bürgern, fragt viel, hört zu, wirkt interessiert. Das war schon in Neukölln so. Auch als Familienministerin leistete sie vergangenes Jahr 500 Außentermine ab.
In Eisenhüttenstadt staunt sie darüber, wie schön die Stadt saniert ist, lobt in der Gaststätte „Aktivist“ die Kartoffelsuppe und schüttelt Passanten auf der Straße und im Café die Hände. Wie es ihnen geht, will sie wissen. Seit 1990 hat die Stadt die Hälfte ihrer Einwohner verloren. Sie lässt sich vom Bürgermeister Frank Balzer erklären, wie die einstige Musterstadt den Verlust verkraftet hat. Als Balzer von „Umschichtungen“ in Bezug auf die Mieter spricht, hakt sie nach: „Was sagen die Leute dazu?“
Wenn man sie auf ihrer Sommerreise beobachtet, merkt man noch mal, was für ein harter Schlag es für die SPD ist, dass sie nicht im Rennen um den Vorsitz antritt. Wo immer sie auftritt, sucht sie nach Gemeinsamkeiten, Verbindungen, Augenhöhe. Auf einer weiteren Station, bei Wacker Chemie in Nünchritz bei Riesa, trifft sie die Facharbeiterin Sylvia Boldt. Es geht um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Beide Frauen tragen das gleiche Blau, wie Franziska Giffey amüsiert feststellt, außerdem sind sie auch noch gleich alt, 41 Jahre.
Wacker Chemie gilt als familienfreundlicher Arbeitgeber, pro Woche bekommen Beschäftigte 2,5 Stunden bezahlt für die Betreuung und Pflege von Angehörigen. Sylvia Boldt, alleinerziehende Mutter eines 14 Jahre alten Sohnes, lobt die Firma dafür. Es sei für sie normal gewesen, immer arbeiten zu gehen. „Mütter gehen eher arbeiten, das ist so ein Ost-Ding, oder?“, fragt Franziska Giffey.
Franziska Giffey als aufmerksame Zuhörerin bekannt
„Ich arbeite ja auch gern“, sagt Sylvia Boldt. „Ick och“, sagt Giffey und beide lachen. Später im Gespräch mit der Geschäftsführung und dem Betriebsrat steuert die Ministerin die Fragen an, die sie an verschiedenen Orten stellen wird und die sie als Motto der Reise gewählt hat: Warum sind so viele Ostdeutsche unzufrieden, obwohl sie doch nach 1989 so viel erreicht haben?
Warum ist die AfD so erfolgreich? „Das will ich wissen, das beschäftigt mich“, sagt Franziska Giffey. Sie erkundet auf ihrer Sommerreise eine Heimat, die ihr über die 16 Jahre in Neukölln – also in West-Berlin – offenbar auch etwas fremd geworden ist.
Riesa ist eine Hochburg der AfD, bei der Europawahl wählte knapp jeder Dritte die Partei. Bevor die Münchner Wacker AG 1998 kam, hatten Investoren das Werk ausgeschlachtet. Die Angst von damals sitze tief, sagt Betriebsratschef Göran Gust.
Eine richtige Erklärung für den AfD-Erfolg hat er aber auch nicht. „Auch in unserer Belegschaft muss es Leute geben, die die AfD wählen, ich weiß aber nicht, wer das ist“, sagt er. Man versuche, die Politik aus dem Werk rauszuhalten. Franziska Giffey hört aufmerksam zu. Das ist ein Satz, der der Ministerin immer wieder begegnet.
Wie man sich als Ostdeutsche in einem westdeutsch geprägten Umfeld durchsetzt, dazu gibt es verschiedene Strategien. Angela Merkel war die Pionierin, bis dato die erfolgreichste, mächtigste Ostdeutsche, sie hat die ersten 35 Jahre ihres Lebens in der DDR verbracht, ein halbes Leben. Aber sie redete in den ersten Jahren öffentlich fast gar nicht über ihr Ostdeutschsein. Sie hatte Erfolg durch Anpassung.
Ihr Ostdeutschsein könnte Franziska Giffey helfen
Vieles an Giffey erinnert an Merkel, auch wenn sie wesentlich herzlicher rüberkommt. Giffey ist mehr als zwanzig Jahre jünger, sie hat mehr Zeit ihres Lebens in der Bundesrepublik als in der DDR verbracht. Als sie noch Bürgermeisterin eines West-Berliner Stadtteils war, hat sie die Unterschiede zwischen Ost und West gern heruntergespielt. Sie hat in Gesprächen gern betont, dass in ihrer Generation die Herkunft keine Rolle mehr spiele. Das war in Neukölln, wo fast jeder irgendwo anders herkommt, die richtige Strategie.
Inzwischen hat sie ihre Herkunft entdeckt. Auf der Sommerreise erzählt sie von ihrem ersten Besuch in West-Berlin im Herbst 1989. Ihre Eltern parkten den Wartburg am Flughafen Schönefeld, von dort gab es für die Ossis einen Shuttle-Service der BVG zum Hermannplatz, mit an Bord zwei DDR-Grenzsoldaten. Von ihrem Begrüßungsgeld kaufte sich die Elfjährige ein Radio.
Mit unverwüstlich guter Laune erklärt sie den skeptischen westdeutschen Journalisten immer wieder, warum der Umbruch nach 1990 fast alle Familien traf. Auch ihre Eltern wurden arbeitslos. Bei ihren Auftritten gibt sie sich kämpferisch, setzt sich für die Belange des Ostens ein. „Wir brauchen eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, Gerechtigkeit bei Löhnen und Renten, wir brauchen mehr Ostdeutsche in Führungskräften“, sagt sie. Sie spricht mit einer Klarheit, die man von SPD-Bundespolitikern so eher selten hört. Auch die Führungsriege der SPD, das gehört zur Wahrheit dazu, hat den Osten nach 1990 viele, viele Jahre eher links liegen lassen.
Franziska Giffey hat inzwischen erkannt, dass ihr Ostdeutschsein ihr helfen kann. Besonders jetzt, wo alles in Bewegung ist. Ihre Ankündigung, sie werde ihr Amt als Familienministerin bei Verlust des Titels zurückgeben, hat ihr Handlungsfreiheit verschafft, neue Möglichkeiten. Möglichkeiten gibt es für Ostdeutsche vor allem im Osten.
Franziska Giffey findet auf ihrer Sommertour durch den Osten keine Wut, keinen Hass und keinen Verdruss
Während sie unterwegs ist, drehen sich die Umfragen, die AfD ist nicht mehr stärkste Partei, die SPD hat gewonnen, liegt jetzt gleichauf. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke wird nicht ewig weitermachen, ob der Regierende Bürgermeister Michael Müller in Berlin noch mal kandidiert, ist auch unklar. Mit einer wie Giffey könnte die SPD womöglich sogar das Ruder noch mal rumreißen und Wahlen in Berlin gewinnen. Das schwant inzwischen auch jenen in der Landespartei, die sie bisher immer als zu rechts kritisierten.
Nächste Station: Radebeul. Vor dem Supermarkt fragt die Ministerin die Rentnerinnen, die sie gleich beim Einkaufen begleiten soll, ob sie denn auch Ostprodukte kauften. Alle nicken. Giffey läuft bei Rewe durch die Regalgänge. Überall regionale Marken, sächsischer Champagner, sächsischer Wein, Nudossi. „Das das war für uns Kinder Goldstaub, und jetzt liegt das hier rum“, sagt sie. Und klingt ganz erstaunt.
Als habe sie das gerade erst entdeckt. Als gäbe es das nicht schon seit über 30 Jahren. Sie legt ein Glas Nudossi aufs Band, für ihren Sohn. Die Wut, den Hass und den Verdruss, den Franziska Giffey im Osten sucht, der der vermeintliche Motor des AfD-Erfolgs ist, wird sie auf ihrer Reise nicht finden. Stattdessen immer wieder Diskussionen über fehlende Infrastruktur und Bahnanschlüsse, einen Mangel an Erziehern.
Im Familienzentrum kommt sie mit dem Leiter eines Familienzentrums ins Gespräch, Mathias Abraham, der sagt, der Mensch habe drei Grundbedürfnisse: gesehen werden, dazugehören, eine sinnvolle Aufgabe haben. Er sagt: „Wenn Menschen das nicht haben, dann werden sie unzufrieden, neidisch, vulgär.“ Franziska Giffey nickt nachdenklich. Dann steht sie auf, verabschiedet sich, der Zeitplan drängt, der nächste Termin wartet. Noch so viele andere Geschichten müssen gehört werden.