Mit Franziska Giffey in Neukölln: „Geb ich dir meine Nummer oder du mir deine?“

Vier Stunden Schlaf, doppelt so viele Termine wie ihr Vorgänger: Berlins Regierende Bürgermeisterin kämpft kurz vor der Wahl um ihr Amt. Wird sie es schaffen? Ein Porträt.

Franziska Giffey (SPD), Regierende Bürgermeisterin von Berlin, kämpft um ihr Amt.
Franziska Giffey (SPD), Regierende Bürgermeisterin von Berlin, kämpft um ihr Amt.Monika Skolimowska/dpa

In der Neuköllner High-Deck-Siedlung will Franziska Giffey einen jungen Mann begrüßen. Er heißt Yusuf und steht vor dem Jugendtreff The Corner. Sie hält ihm die Hand hin. Yusuf legt seine auf die Brust.

„Sie geben der Regierenden Bürgermeisterin nicht die Hand?“, fragt Franziska Giffey.

„Nein“, sagt Yusuf.

„Na gut“, sagt Giffey, „dann gehen wir erst mal rein.“

Es ist fünf Tage nach den Randalen in der Silvesternacht, sie ist nach Neukölln gekommen, um Jugendliche zu fragen, wie es passieren konnte. Es ist einer ihrer Spontan-Termine. So nennen ihre Mitarbeiter es, wenn die Chefin plötzlich alle Termine über den Haufen wirft, um sich vor Ort ein Bild zu machen, am liebsten ohne Ankündigung. Als Familienministerin ist sie in Schulen gefahren, zum Beginn des Ukraine-Krieges in das Ankunftszentrum für Flüchtlinge in Reinickendorf. Jetzt taucht sie im Jugendtreff in der High-Deck-Siedlung auf. Allein mit ihren Leibwächtern.

Der Jugendtreff ist ein Container, der vor 20 Jahren aufgestellt wurde, als die Siedlung schon mal in den Schlagzeilen war. Nur Jungs sind da, sie sprechen Deutsch und Arabisch miteinander, tragen Kapuzenshirts, fläzen sich in Sofas. Giffey trägt ein blaues Kostüm und sitzt in einem Riesensessel, ganz vorne auf der Kante, aufrecht, wachsam, neugierig.

Franziska Giffey fragt: Alle artig?

Ob denn jemand dabei war, Silvester?, fragt sie. Kopfschütteln.

Alle artig?

Nicken. Schweigen. Die Jungs scheinen nicht so richtig zu wissen, was die blonde Frau von ihnen will. Einer verlangt, dass ihre Leibwächter gehen. Ein anderer fragt, warum sie nicht Bundeskanzler sei. Yusuf will, dass seine Anzeigen gelöscht werden. „Geb ich dir meine Nummer oder du mir deine?“

Sie ringen miteinander, anderthalb Stunden lang. Giffey kommt immer wieder auf Silvester zurück, fragt, was die Jungs machen würden, damit so was nicht mehr passiert, will, dass sie reden, über ihre Probleme, die spätestens seit Silvester auch die Probleme der ganzen Stadt sind.

Also ihre.

Franziska Giffey, 44 Jahre alt, ist Regierende Bürgermeisterin von Berlin und Spitzenkandidatin der SPD bei der Wiederholungswahl am kommenden Sonntag. Sie hatte nur ein Jahr Zeit, um die Stadt zu regieren. Sie sagt, sie habe in diesem Jahr mehr erreicht als andere in einer ganzen Legislaturperiode. Aber alles, was nun, Anfang Januar, davon übrigbleibt, sind die Bilder der Silvesternacht und Markus Söders Sprüche über die Chaosstadt.

„Na, allet jut?“ Franziska Giffey besucht das Bürgeramt Neukölln.
„Na, allet jut?“ Franziska Giffey besucht das Bürgeramt Neukölln.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Er geht nicht gut los für sie, dieser Wahlkampf. Anfangs hofft sie noch, es könnte von Vorteil sein, dass sie, die in Neukölln Stadträtin und Bürgermeisterin war, sich hier so gut auskennt, Dinge sofort anpacken kann. Anpacken ist Giffeys Ding. Sie trifft sich mit Jugendrichtern, besucht Polizisten, Feuerwehrleute und Gastronomen in der Sonnenallee, ruft einen Jugendgipfel gegen Gewalt ein, fragt den Chef der Wohnungsbaugesellschaft Howoge, ob der Container in der High-Deck-Siedlung ausgebaut werden könne.

Aber dann meldet sich die CDU zu Wort und fordert, die Vornamen der Silvesterrandalierer zu veröffentlichen. Ein Satz, der auch von der AfD kommen könnte, der die Stimmung verändert. Die Umfragewerte der CDU gehen hoch, die der SPD runter. Giffey sagt jetzt: „Silvester war ein tiefer Schlag ins Kontor.“ Sie erkennt, was es bedeutet, Wahlkampf zu machen in diesen Zeiten.

Klaus Wowereit und eine Rede auf Russisch

Beim letzten Mal war Sommer und Frieden in Europa. Sie fuhr mit Klaus Wowereit im Dampfer auf der Spree und hielt vor russischsprachigen Wählern in Marzahn eine kleine Rede. Auf Russisch. Es gab keine Kampfpanzer-Diskussion, keine Inflation, keine Angst vor Wohlstandsverlust. Diese Angst sei es, die gerade alles bestimme, sagt sie. „Es ging ja wirtschaftlich immer nur nach vorn in den letzten Jahren. Einige Leute haben aber Angst vor Veränderungen, wollen, dass alles so bleibt wie es ist, damit punktet die CDU.“ 

Sonnabendmorgen in Alt-Rudow, eine Woche nach Silvester. Die SPD verteilt Werbung und Schokokäfer vor Edeka. Ein Mann beschwert sich, dass Ausländer mit Goldketten mehr Stütze kriegen als seine Frau. Eine Frau sagt, man müsse „die alle einsperren“. Eine andere murmelt: „Das deutsche Volk wird vergessen.“

In Alt-Rudow hat beim letzten Mal die CDU gewonnen. Franziska Giffey sagt, die Straftäter würden schnell verurteilt, sie weist auf die Entlastungspakete hin: 29-Euro-Ticket, Energiepauschale, Sozialticket, Energiegeld, Kindergeld. „250 Euro pro Kind, eine Wahnsinnserhöhung!“ Berlins Wirtschaft wachse, „über Bundesdurchschnitt!“ Auf eine Frau redet sie so lange ein, bis sie selbst fast in der Edeka-Gemüseabteilung steht. „Ich muss da jetzt rein“, sagt die Frau. Giffey fragt: „Haben Sie schon einen Glückskäfer?“

Gerade mal ein Jahr im Amt. Franziska Giffey beim Wahlkampf im Sommer 2021. 
Gerade mal ein Jahr im Amt. Franziska Giffey beim Wahlkampf im Sommer 2021. Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

Zu nett, zu harmlos für die neue Zeit?

Sie trägt einen knallroten Mantel, die blonden Haare hochgesteckt, und erinnert hier im beschaulichen Teil Neuköllns an eine Figur aus einem Zeichentrickfilm, eine Glücksfee. Die SPD-Wahlplakate passen dazu. Das Lächeln, die Herzen, die Sprüche. Sie wirken zu nett, zu harmlos für die neue Zeit. Vielleicht sind die SPD-Umfragewerte auch deswegen schlecht. Vielleicht traut man es einem Mann von der CDU, jetzt eher zu, die Stadt zu führen als einer Frau von der SPD.

Giffey ärgert sich, dass die Leute nicht merken, „dass wir einen guten Job machen“, dass Kai Wegner, Spitzenkandidat der CDU, mit Sprüchen durchkomme wie: „Wir müssen mal die Kapazitäten hochfahren.“ Ohne zu sagen, wie. Er sagt auch: „Wir müssen mal eine Schippe rauflegen.“ Schüppe statt Schippe. Mit ü. Wegner kommt aus Spandau. Giffey kommt aus Frankfurt (Oder), aus dem Osten.

Sie erwähnt es selten, aber die Wende, der Übergang von einem System ins andere, haben sie geprägt. Ihre Eltern haben ihre Arbeit verloren, und auch Giffey, die noch Schülerin war, musste alles neu lernen, neu anfangen. Ein Muster, das sich durch ihr Leben zu ziehen scheint. Nie ankommen, sich immer wieder beweisen müssen. Ihr Lehramtsstudium musste sie wegen einer Kehlkopfschwäche abbrechen. Sie studierte Verwaltungsrecht, ging in die Politik, wurde Bildungsstadträtin und Bürgermeisterin in Neukölln, dann Bundesfamilienministerin, legte ihr Amt wegen Plagiatsvorwürfen bei ihrer Doktorarbeit nach drei Jahren nieder, wurde Regierende Bürgermeisterin von Berlin. Für ein Jahr, „ein krasses Jahr“, wie sie sagt. Und muss nun, wegen einer Pannenwahl, mit deren Organisation sie nichts zu tun hatte, noch einmal als Kandidatin antreten.

Bootsfahrt auf der Spree im Sommer 2021. Kein Kampfpanzer-Diskussion, keine Angst vor Wohlstandsverlust.
Bootsfahrt auf der Spree im Sommer 2021. Kein Kampfpanzer-Diskussion, keine Angst vor Wohlstandsverlust.Paulus Ponizak/Berliner Zeitung

„So, woll’n wa?“

Es ist anstrengend, dieser doppelte Job, eine Stadt regieren und sich gleichzeitig neu für den gleichen Posten bewerben. Sie gebe immer alles, „meine ganze Kraft, mein ganzes Herz“, sagt sie. Sie schläft vier bis fünf Stunden am Tag, ihren Sohn sieht sie kaum. Er ist 13. Als neulich ein Wahlkampftermin ausfiel, ging sie mit ihm schwimmen. Ein Spontan-Termin in den Winterferien. Sie hat doppelt so viele Termine wie ihr Vorgänger Michael Müller, sagen Mitarbeiter, die unter beiden gearbeitet haben.

Sie will alles wissen, alles verstehen, jeden persönlich kennenlernen, spricht Leute beim Namen an: „Allet jut, Frau Lange?“, fragt sie die Neuköllner Bürgeramtschefin. „Na, Peterchen, wie geht’s?“, ruft sie einem Rudower zu. Wenn ihr etwas nicht schnell genug geht, fragt sie: „So, woll’n wa?“

Ein Montagabend, drei Wochen vor der Wahl: Der Wirtschaftsrat des 1. FC Union hat die Spitzenkandidaten in die Alte Försterei eingeladen. Es geht mit der Frage los, was schiefgelaufen ist in der Stadt. Giffey sagt: „Mensch, bei Union ist doch sonst immer gute Stimmung, ich dachte, wir reden über die Zukunftsvision unserer Stadt.“ Der Moderator lässt nicht locker, kritisiert die Baugenehmigungsverfahren, das verfehlte Ziel, im vergangenen Jahr 20.000 Wohnungen in Berlin zu bauen. Auch das gehört zu der neuen Zeit, zu diesem Wahlkampf: schärfere Fragen, kurze Antworten. Manchmal läuft eine Uhr mit, blinkt nach 30 Sekunden eine Lampe auf. Wie bei einer Quizshow.

Bis April ist das 29-Euro-Ticket gültig, Herr Wegner, nur dass Sie das wissen!

Franziska Giffey

Giffey sagt, der Angriffskrieg in der Ukraine wirke sich „massiv aufs Baugeschehen aus“, gibt zu, dass „das mit den Genehmigungsverfahren“ verbessert werden muss, „aber wir hatten ja nur ein Jahr“. Sie reicht das Mikro weiter, es gibt nur zwei für alle. Als Kai Wegner sagt, das 29-Euro-Ticket sei nur bis März gültig, muss sie fünf Minuten warten, um ihn zu korrigieren: „Bis April ist das Ticket gültig, Herr Wegner, nur dass Sie das wissen.“

Es wirkt – so zeitversetzt – eher belehrend als schlagfertig. Am Ende, als es um fehlende Kitaplätze und schlechte Schulen geht, hält sie das Mikro einfach fest, lobt die Berliner Ganztagsschulen, die gebührenfreie Kitabetreuung, die kostenlosen Schülerfahrkarten. In ihrer Amtszeit seien 5000 Kita- und 8000 Schulplätze geschaffen worden und die Zahl der Bürgeramtstermine um eine halbe Million gestiegen. „Ich verstehe Ihren Frust, aber man muss doch auch mal sagen, was Gutes passiert ist.“

Immer wieder versucht sie, das Positive hervorzuheben: Berlin liegt auf Platz 4 der innovativsten Städte der Welt, auf Platz 2 im Tourismusvergleich, „direkt hinter Barcelona“. Über 360.000 Flüchtlinge seien im vergangenen Jahr in Berlin „erstversorgt“, rund 100.000 untergebracht und über 7.000 ukrainische Schulkinder eingeschult worden. 

Wenn man ihr eine Weile zuhört, sieht man die Stadt mit anderen Augen, hat man das Gefühl, sie könnte Wegner in die Flucht schlagen und auch Bettina Jarasch von den Grünen. Aber dann kommen die Umfragen. Die CDU vorne, Grüne und SPD gleichauf, mal die einen besser, mal die anderen. Und irgendwann wird klar: Es kann sein, dass sie es nicht schafft. Dass diese atemlosen Berliner Wintertage das Ende ihrer Regierungszeit sind. Nach einem Jahr. Schluss.

Beliebteste Kandidatin

Ist ihr das auch klar?

Statt zu antworten, zeigt sie eine Grafik auf dem Handy, eine Umfrage nach der Beliebtheit der Kandidaten. Giffey liegt klar vorne, vor Wegner und Jarasch. Das heißt so viel wie: Es liegt an ihr, sie muss noch aktiver, noch sichtbarer werden, noch mehr Termine machen.

Franziska Giffey auf einem Wahlplakat neben ihren Konkurrenten in Berlin-Pankow.
Franziska Giffey auf einem Wahlplakat neben ihren Konkurrenten in Berlin-Pankow.Rolf Zällner/imago

Es geht weiter: Wahlkampf in Mitte, Schöneberg, Reinickendorf, Tempelhof, Steglitz, Pankow, das Eckpunktepapier zur Verwaltungsreform im Senat beschließen, Härtefallfonds für Berliner Unternehmen, kostenlose Schwimmbadbesuche für sozial schwache Familien. Manchmal wirkt es, als wolle sie Wahlgeschenke verteilen, manchmal, als wolle sie noch etwas hinterlassen in der Stadt, bevor es zu spät ist.

Am Wochenende vor der Wahl gibt es Gerüchte, dass Giffey Innenministerin wird, weil Nancy Faeser in Hessen als SPD-Spitzenkandidatin antreten will. Es klingt, als ob die Regierende Bürgermeisterin bereits auf dem Absprung sei. „Letzte Ausfahrt Innenministerium“, titelt die Bild-Zeitung. „Hanebüchen!“ sei das, sagt Giffey. Die CDU komme inhaltlich nicht an sie ran und streue jetzt so was.

„Ich bin ein Ostkind“

Sie sitzt in der Rathauskantine am Alexanderplatz, vor einem Teller mit Fleisch, Bohnen und Kartoffeln, um sie herum Rentnerehepaare. Die Kantine ist für alle offen. „Prager Schinken, super!“, sagt Giffey. Sie hat Hunger. Am Morgen war sie auf zwei Richtfesten in Alt-Stralau, stand in dünnen Schuhen im Schnee, hielt Reden über die Bedeutung von sozialem Wohnungsbau in Krisenzeiten. Nachmittags besucht sie mit Bundeskanzler Scholz das Pharmaunternehmen Bayer in Wedding, um sich über das neue Zentrum für Gen- und Zelltherapie zu informieren.

Noch sechs Tage bis zur Wahl. Die Umfragewerte für die CDU werden immer besser: 26 Prozent! Sie aber wirkt immer ruhiger. Sie habe das Gefühl, alles gegeben zu haben, sagt sie, und wenn es nicht klappe, gehe das Leben auch weiter. Das hat sie neulich beim Gottesdienst in der Marienkirche auch dem Bischof gesagt, als der fragte, wie es läuft. Der Bischof antwortete: Ich glaube, der liebe Gott findet es ganz gut, was Sie machen.

Ist sie denn religiös?

„Nee“, sagt Franziska Giffey, „ich bin ja ein Ostkind.“

Sie steht auf, bringt den Teller weg, muss weiter, zum nächsten Termin. Der Bundeskanzler wartet. Und auf Gott kann sie sich nicht verlassen.