Frieden in der Ukraine und die Causa Bennett: Faktenprüfer auf Abwegen

Der Umgang mit der Vermittlungsmission des früheren israelischen Premiers Bennett wirft die Frage auf: Werden die Medien Teil eines Informationskriegs?

Kanzler Olaf Scholz und Israels Premier Naftali Bennett während eines Gesprächs.
Kanzler Olaf Scholz und Israels Premier Naftali Bennett während eines Gesprächs.Bundespresseamt

Ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine setzt der Westen weiter auf Krieg, anstatt über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Während Bundeskanzler Scholz „die Zeit für Verhandlungen noch nicht gekommen“ sieht, so als wäre der Tod von mehreren Hundert Menschen pro Tag nicht Grund genug, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, schließt Außenministerin Baerbock diese mit ihrer Rede von einem „gerechten Frieden“ und unrealistischen Vorbedingungen de facto sogar kategorisch aus. Die vermeintliche Notwendigkeit, den Krieg zu jedem Preis und auf unbestimmte Zeit fortzusetzen, wird damit begründet, dass Russland gar nicht verhandeln wolle und auf einen kompromisslosen „Diktatfrieden“ setze.

Dieses Narrativ zur Legitimierung der westlichen Strategie im Ukraine-Krieg, die – wie zuletzt auch Verteidigungsminister Pistorius erklärte – auf einen militärischen Sieg gegen die Atommacht Russland abzielt, ist durch den Bericht des ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett über die Waffenstillstandsverhandlungen beider Konfliktparteien im vergangenen Frühjahr schwer ins Wanken geraten. In einem mehrstündigen Videointerview legt Bennett detailliert dar, wie sowohl Russland als auch die Ukraine wenige Wochen nach Kriegsbeginn unter seiner Vermittlung zu erheblichen Zugeständnissen bereit gewesen seien. Obwohl ein Waffenstillstand damals potenziell erreichbar gewesen wäre, habe der Westen dies blockiert.

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Uwe Zucchi/dpa
Zur Person
Sevim Dagdelen ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie ist Obfrau der Fraktion Die Linke im Auswärtigen Ausschuss, stellvertretendes Mitglied im Verteidigungsausschuss und Sprecherin für internationale Politik und Abrüstung. 2017 bis 2020 gehörte sie als Vizevorsitzende dem Vorstand der Fraktion Die Linke an. Sevim Dagdelen ist Mitglied der Parlamentarischen Versammlung der Nato und stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Seit Jahren engagiert sich die Abgeordnete auch für die Freilassung des Journalisten und Wikileaks-Gründers Julian Assange, der im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert ist und an die USA ausgeliefert werden soll, wo ihm wegen der Veröffentlichung von US-Kriegsverbrechen 175 Jahre Haft drohen.

Doch der entlarvende Bericht Bennetts wurde in den öffentlich-rechtlichen Medien und in den Leitmedien wahlweise ganz ignoriert oder heruntergespielt. Ein Aufschrei blieb aus. Symptomatisch hierfür ist ein am 22. Februar 2023 erschienener „Faktencheck“ des ZDF. Dieser beschäftigt sich mit einer Aussage von Sahra Wagenknecht in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ am Vorabend. Dort stellte diese mit Blick auf das Bennett-Interview fest: „Er sagt, er war kurz davor, einen Waffenstillstand zu erreichen. Blockiert wurde es von den USA und von Großbritannien.“ Diese Aussage wird seitens der „Faktenchecker“ als falsch dargestellt. Die Begründung mutet geradezu absurd abenteuerlich an: Wagenknecht habe unterschlagen, dass Bennett die Chancen für eine Waffenstillstandsvereinbarung rückblickend „nur“ auf 50 Prozent schätzt.

„Markus Lanz“-Sendung vom 22. Februar 2023
„Markus Lanz“-Sendung vom 22. Februar 2023ZDF

Fakt ist: Bennett selbst spricht in dem Interview von einer „guten Chance auf einen Waffenstillstand“. Der willentliche Verzicht auf eine Fifty-fifty-Chance, dem Frieden näherzukommen sowie Tod, Leid und Zerstörung zu beenden, ist in jedem Fall ein Offenbarungseid.

Die Autoren des ZDF-Beitrags haben offenbar keinerlei Interesse, sich mit der bemerkenswerten Enthüllung Bennetts über die Rolle des Westens für das Scheitern eines möglichen Waffenstillstands in der Ukraine auseinanderzusetzen (Bennett: „Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.“). Keine Rolle spielen beim „Faktencheck“ die Ausführungen Bennetts über den damaligen Verhandlungsdurchbruch und die „enormen Zugeständnisse“, zu denen sowohl Russland als auch die Ukraine bereit gewesen seien. In Übereinstimmung mit Beiträgen der US-Fachzeitschrift Foreign Affairs und der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) berichtet Bennett davon, dass sich die Ukraine zu einem Verzicht auf einen Nato-Beitritt bereiterklärt und Russland von dem Ziel einer Demilitarisierung der Ukraine abgesehen habe.

Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett
Der israelische Ministerpräsident Naftali BennettMaya Alleruzzo/AP

Der Umgang von Teilen der Medien mit dem Fall Bennett illustriert, wie sich diese einem Verlautbarungsjournalismus verschrieben haben, der jegliche Opposition gegen eine auf Krieg und Eskalation setzende Regierungspolitik zu zersetzen versucht. Die geradezu besessenen Bemühungen, die Friedenskundgebung mit 50.000 Teilnehmern am Brandenburger Tor vergangenen Samstag kleinzureden und in die rechte Ecke zu rücken, sind ebenfalls Ausdruck dieser gefährlichen Entwicklung, die eine Verhinderung demokratischer Debatten befördert.

Mit den Faktencheckern und -findern scheint sich zudem das Instrument einer regierungsamtlichen Wahrheitsproduktion zu verbinden, mit dem Anspruch festzuschreiben, was richtig ist und was nicht richtig sein darf. Hier wächst die Gefahr, mit dem Etikett, Falschinformationen bekämpfen zu wollen, unter Verletzung des journalistischen Ethos selbst Teil eines Informationskrieges zu werden.


Die Redaktion der Berliner Zeitung steht für Debatte und Debattenkultur. Dies ist ein Gastbeitrag der Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen von Die Linke. Die Meinung der Autorin muss nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.