Haiti: Wo Bildung unbezahlbar ist
THOMAZEAU - In der Kirche von Thomazeau treibt Jean-Marc Valbrun seine Schützlinge an wie ein Besessener. Aufstehen – hinsetzen – aufstehen – hinsetzen – aufstehen: Immer und immer wieder springen die Chorkinder aus der Schule St. Michel auf sein Kommando von den Bänken und hocken sich wieder hin, und dabei singen sie aus voller Kehle, was der Lehrer ihnen vorgibt. Vier Jahre alt ist der Jüngste, 17 der Älteste; vor allem die Kleineren sind schon völlig erschöpft, dabei ist es doch erst die Generalprobe. Doch Valbrun nimmt darauf keine Rücksicht. Nicht an einem Tag wie heute.
Sonntags nutzt die Kirche die Bänke
Denn es werden wichtige Gäste erwartet, wichtige Gäste. Eine Gruppe von emigrierten Landsleuten aus den USA hat sich angesagt hier im staubigen Osten von Haiti. Zweimal im Jahr besuchen sie das Dorf Thomazeau und überreichen den Schülern Geschenke. Valbrun, Lehrer für die Landessprache Kreolisch, Französisch, Geografie und noch einige andere Fächer und nebenbei Leiter des Schulchors, will natürlich einen guten Eindruck hinterlassen. Noch einmal heizt der 49-Jährige den Kindern ein: „Hinsetzen – aufstehen – hinsetzen!“
Gegen halb zwölf fahren endlich drei Autos vor. Mehrere attraktive junge Frauen steigen aus. Die Kinder von Thomazeau begrüßen sie begeistert. Eine der Damen stellt sich vor als Christine Simmons, Vizechefin bei der Firmengruppe von Magic Johnson. Sie sei glücklich, sagt sie, heute den Kindern in Haiti helfen zu können. Valbrun weiß nicht, wer dieser Magic Johnson ist; die Basketballliga der USA, in der der Mann seine Millionen verdiente, hat ihn nie interessiert. Aber glücklich ist heute auch er, und so lässt er seine Kinder singen, noch mal und noch mal.
Lehrer verdienen schlecht
Die Schule, in der Valbrun unterrichtet, ist nicht viel mehr als ein Rohbau. Ein Pastor habe das Geld für den Bau gegeben, berichtet Valbrun später in einer ruhigen Minute. Nach dessen Tod seien die Arbeiten steckengeblieben. Vom Hof des U-förmigen Gebäudes schaut man direkt in die Klassenzimmer. Die meisten von ihnen stehen leer. Denn weil Sonntag ist, haben die Lehrer die Bänke nach nebenan in die Kirche geschafft. Die Kirchengemeinde und die Schule benutzen sie abwechselnd. Es spart Geld.
Die Leute hier sind arm, die Lehrer bilden keine Ausnahme. „Ich verdiene 6000 Gourdes im Monat, das sind etwa 150 Dollar. Um meine Familie zu ernähren, bräuchte ich mindestens 400 Dollar“, sagt Englischlehrer Laventure Louica. Bei derart schlechten Gehältern sei es kein Wunder, dass kaum ein Haitianer Lehrer werden wolle.
Allein 1250 Gourdes muss Louica bezahlen, damit sein fünfjähriger Sohn die Schule St. Michel besuchen kann, in der er, der Vater, unterrichtet. In seiner Freizeit züchtet er darum Hühner und Schafe. „Wenn ich Geld brauche, und die Schule zahlt mir mein Gehalt nicht, dann verkaufe ich eines meiner Tiere, um zu überleben.“