Neu im Bundestag und dann gleich ein Krieg
Vor sechs Monaten zog Hakan Demir in den Bundestag ein – als einer von 279 Neuen. Seitdem versucht er, seine Ideale mit der „Zeitenwende“ zu vereinbaren.

Berlin-Zwischen den Tischen im Restaurant für die Abgeordneten des Bundestages bewegt sich Hakan Demir umsichtig, aber mit gewohnten Schritten. Er trägt Hemd, Sakko, Lederschuhe. Findet einen freien Tisch, guckt sich um, setzt sich. „Hier ist gut.“ Ab und an nickt Hakan Demir irgendjemandem zu, hebt leicht die Hand, die auf dem Tisch liegt, grüßt. Der 37-Jährige ist seit sechseinhalb Monaten im Bundestag. Einer der Neuen hier.
„Hier wird gerade Geschichte geschrieben“, sagt er. Noch bevor die erste richtige Frage fallen kann, wählt er schon große Worte. Im September holte Demir das Direktmandat für die SPD im Wahlkreis Neukölln, sein eigener historischer Tag, wenn man so will. Seitdem ist so viel passiert, dass man kaum mitkommt. Der Krieg in der Ukraine, die russischen Kriegsverbrechen. In Berlin kommen Hunderttausende Flüchtlinge an. Die Diskussionen um Gas und Öl, die beschlossene Aufrüstung der Bundeswehr.
„Leute, passt auf euch auf“, sagten die erfahrenen Abgeordneten
Hakan Demir ist einer von 279 Abgeordneten, die neu in den Bundestag einzogen sind. Mehr als jeder Dritte ist ein Neuling. Demir ist zudem einer von 83 Abgeordneten mit einer Migrationsgeschichte, einer von 184 unter 40 Jahre. Einer, der die „Turnschuh-Dichte“ im Parlament erhöht hat, wie er selbst kurz nach seinem Einzug sagte, beim ersten Gespräch nach der Wahl. Wie würde es ihm ergehen im Bundestag? Wie ist es, in der großen Politik anzukommen? Davon erzählte er in den nächsten Monaten bei mehreren Gesprächen.
Wie alle anderen Neuen ist er sofort in den gewaltigen politischen Umbruch geraten, der unter „Zeitenwende“ verhandelt wird. In Turnschuhen sieht man ihn im Parlament nicht mehr so oft.
Als er in den Bundestag einzog, war einer der häufigsten Sätze, die er von erfahreneren Abgeordneten hörte, gewesen: „Leute, passt auf euch auf.“ Auch das erzählt er beim ersten Treffen. Der geschiedene Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble begrüßte die neuen Abgeordneten im November mit mahnenden Worten: „Es kommt eine interessante, aber auch strapaziöse Zeit auf Sie zu.“ Wohl niemand konnte ahnen, wie strapaziös.
Mitte März sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Liveschalte zu den Abgeordneten und forderte Solidarität. Gut einen Monat dauerte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine da bereits. Bevor das Parlament (sehr rasch) zur Tagesordnung überging, gab es aus fast allen Fraktionen anhaltenden Applaus. „Dann guckt man sich um, und 600 Leute stehen mit einem auf, man guckt sich um und denkt, hier passiert gerade was Krasses“, sagt Hakan Demir sechs Tage nach Selenskyjs Rede im Abgeordneten-Restaurant bei einem Kaffee. „Und ich weiß, auch ich bin der Adressat.“ Die drängenden Bitten des ukrainischen Präsidenten, die beispiellosen Entscheidungen der eigenen Regierung. Schwer zu sagen, was das mit ihm macht. Er klingt ehrfürchtig.
Es ist ein Mittwoch Ende März, Sitzungswoche. Es geht um den Haushalt. Am Morgen hat der Bundeskanzler das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in der Generaldebatte verteidigt. „Die Ukraine kann sich auf unsere Hilfe verlassen“, sagte Scholz. Seine SPD, die Grünen und die FDP klatschen. Die Regierung gibt sich geschlossen. Aber sie steht unter Hochspannung. Auch Hakan Demir applaudiert. Er sitzt in der siebten der blauen Stuhlreihen, der ersten Reihe ohne Tische in der SPD-Fraktion. Da, wo die meisten Neuen sitzen.
Scholz’ Sondervermögen verdutzte Demir
Als Scholz das Sondervermögen für die Bundeswehr gut einen Monat vorher, also kurz nach Kriegsbeginn, verkündet hatte, sei er verdutzt gewesen, sagt Demir. Er erfuhr erst aus der Rede des Kanzlers davon. Ob er eine wichtige Nachricht verpasst hatte? Nein, stellte sich heraus, offenbar war kaum jemand vorab über diese gewichtige Summe informiert worden. Demir hätte sich gewünscht, dass die Fraktion wenigstens eine Stunde vorher über den Beschluss informiert worden wäre, sagt er. „Das Gefühl, nicht eingebunden worden zu sein, teilen auch andere.“
Aber Hakan Demir ist keiner, der klagt. Er habe Verständnis für den Kanzler, sagt er. Es sei eben eine schwierige Situation. Und es sei möglich, dass die SPD sich zu einem spektakulären Zuschuss für die Bundeswehr entscheide und dennoch die sozialen Projekte im Blick behalte. Er nennt das: „Sowohl-als-auch-Politik“. Demir ist ein Mediator, einer, der behutsam in Konflikten agiert, so sagt es eine Genossin.
Er ist jetzt Mitglied im Innenausschuss. Das war eines seiner Wunschressorts. Dort arbeitet er zum Beispiel am Verteilungssystem der ukrainischen Geflüchteten mit. Kann sich aktiv für seine Politik einsetzen, so, wie er es als seine Aufgabe betrachtet.
Seit dem ersten Tag des Krieges in der Ukraine widmen sich die Posts des Abgeordneten in seinen Social-Media-Kanälen besonders denen, die jetzt fliehen. Demir informiert zum Aufenthaltsgesetz und fordert, dass zwischen Geflüchteten keine Unterschiede gemacht werden dürfen. Aber er erinnert auch an das krisengeschüttelte Afghanistan, den Krieg im Jemen, und wirbt für das Selbstbestimmungsgesetz in Deutschland.
Mich erreichen seit Tagen Nachrichten, dass Schwarze Personen/People of Color Probleme haben, aus der #Ukraine rauszukommen. &: Die aufnahmewilligen Nachbarländer sollen sie teilweise nicht reinlassen. Erinnerung: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."
— Hakan Demir (@HakanDemirNK) February 28, 2022
Denn Politiker zu sein, so sagt es Demir, heißt für ihn, aus der Rolle des Zuhörers in die eines Gestalters zu kommen. „In diesem Prozess befinden wir uns alle“, sagt er. Mit Prozess meint er: die eigene Rolle im Parlament zu finden, nach der Wahl, zwischen Pandemie und Krieg. Alle, das sind die neuen Ministerinnen und Minister, die neue Regierung, die neue Opposition. Und die vielen Neugewählten.
Der „erste Demir“ baute Straßen im Pott
Sein Weg in die Politik war schleichend, sagt Demir. Einen Schlüsselmoment habe es nicht gegeben. Davon erzählt er an einem hell bewölkten Tag im Oktober, bei einem Çay in einem kleinen Imbiss in der Nähe der Blaschkoallee in Neukölln, nach einer Tour durch seinen Wahlkreis. „Ich war schon immer politisch“, sagt Demir, sein Kinn hat er auf einer Faust abgestützt, „aber nicht immer politisch aktiv.“ Lange habe er sich als Wissenschaftler verstanden, als Beobachter. An diesem Tag trägt Hakan Demir weiße Sneaker.
„Merhaba“, sagt eine Frau beiläufig vom Nachbartisch aus. Als sie erkennt, dass es ein Interview ist, sagt sie mit einem Nicken: „Er ist einer von uns.“ Es klingt zufrieden.
Hakan Demir ist ein Arbeiterkind. In seiner Familie war er der Erste, der die Universität besuchte. In Trier hat er Politik, Philosophie und BWL studiert. Aufgewachsen ist er in Krefeld, sein Großvater, „der erste Demir“, so nennt Hakan ihn in einem Interview, war 1970 nach Westdeutschland gezogen, im Rahmen des sogenannten Gastarbeiterabkommens mit der Türkei. „Der erste Demir“ baute Straßen im Pott.
Von der politischen Bildung in die Politik
Sein Studium führte Hakan Demir 2008 für ein Semester nach Istanbul. Wenn er aus seiner Biografie erzählt, kommt manchmal der Wissenschaftler in ihm durch. Dann rationalisiert er, auch Persönliches. Dann sagt er Sätze wie: „Grundsätzlich wird man durch so was ja offener. Das weiß man aus der Psychologie.“
Die Erfahrung, sich in einer neuen Gesellschaft zurechtzufinden, weckte ihn ihm das Bedürfnis, politisch aktiv zu werden: Nach dem Auslandssemester, sagt er, wollte er die Welt nicht mehr nur beobachten. Er trat in die SPD ein, arbeitete in der politischen Bildung, bei Vereinen wie DeutschPlus und beim Programm Dialog macht Schule.
Als Demir 2012 nach Berlin zieht, erste Station Sonnenallee, „wegen der Liebe“, kennt er nicht viele Menschen in der Stadt. Die SPD Rixdorf wird eine Anlaufstelle. Für die ersten politischen Ämter muss er kämpfen, sagt er.
2016 wird Demir stellvertretender Vorsitzender der SPD Rixdorf, für den Vorsitz fehlt im ersten Anlauf eine Stimme. 2018 reicht es dann doch. Im selben Jahr noch wird er Mitglied im Landesvorstand der SPD Berlin und Co-Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt. Die vergangenen fünf Jahr verbrachte Demir bereits im Bundestag, als Mitarbeiter des Hallenser Abgeordneten Karamba Diaby.
Kämpfen musste Demir auch um die Kandidatur für den Bundestag. Er war der Kandidat der Neuköllner SPD. Aber Franziska Giffey brachte einen Gegenkandidaten ins Rennen, den Musikproduzenten und Charlottenburger Tim Renner. Der Kampf um die Kandidatur sei „sportlich“ gewesen, sagt Demir.
Eine Erfolgsgeschichte aus Neukölln
Demir gewann knapp, mit fast 52 Prozent. Und mit ihm der linke Flügel der Neuköllner SPD. Die wollte offenbar ihre eigene Vertretung im Bundestag. Eine, die sich soziale Ziele vornimmt. Im Wahlkampf sprach Demir viel von der Überwindung von Hartz IV, mehr Kindergeld, dem Problem von der großen Spanne zwischen Reich und Arm.
Und auch für die migrantischen Communites im Bezirk bedeutete Demirs Mandat viel. Es könnte die Wahrnehmung des Stadtteils prägen, wenn es in den Medien mehr migrantische Erfolgsgeschichten wie die von Hakan Demir gibt, sagt eine Parteigenossin. Und es ist ja richtig: Wie viele Zeitungsberichte erzählen von der Kriminalität in Neukölln? Und wie viele von Neukölln, der Brutstätte für die Bundespolitik? Genau.
Die erste Rede zum Anschlag von Hanau
Es gibt kaum eine Frage, auf die Hakan Demir nicht mindestens zwei Antworten hat. Man müsse verlieren und gewinnen können in der Politik, sagt Demir. Bewegt von der Erinnerung an den Wahlsieg um das Direktmandat wirkt er trotzdem. „Wenn ich an die 35.000 Menschen denke, die mich gewählt haben …“, seine langen Finger wibbeln.
Seine erste Rede im Bundestag hält Demir zum zweiten Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau. Im Februar 2020 ermordete ein Attentäter in der hessischen Kleinstadt neun Menschen aus rassistischen Motiven. Er wollte diese Rede halten, sagt Demir, nachdem er mit Angehörigen der Opfer gesprochen hatte.
In dieser Rede zeigt er etwas von sich, vielleicht mehr, als er in vielen Gesprächen preisgibt.
„Ich war 35 Jahre alt und noch nie in meinem Leben wollte ich Deutschland verlassen. Doch dann kam Hanau.“ Hakan Demir spricht konzentriert, später sagt er, er sei nervös gewesen. In der Videoaufzeichnung der Rede sieht man ihm das nicht an. Er würdigt die Arbeit der Opferfamilien, die seit dem Angriff für Aufklärung kämpften. Es wäre nur verständlich, wenn die Angehörigen dieser Gesellschaft den Rücken kehren würden, sagt Demir. Doch sie taten es nicht. Und auch er tue es nicht. „Denn das hier ist auch unser Land. Denn das ist auch unsere Sache. Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht weichen.“
Um die Amtszeit durchzuhalten, passt er jetzt auf sich auf, so, wie es ihm geraten worden ist. Er hat mit dem Rauchen aufgehört, sagt er, auch wenn er ohnehin nie Kettenraucher war, verzichtet auf lange Party-Nächte, auch wenn das ohnehin nicht so sein Ding ist, am Morgen meditiert er zehn Minuten. „Sonst hält man das nicht vier Jahre aus.“ Aber auch die Arbeit im Wahlkreis gebe ihm Kraft. Und vielleicht ist das sogar seine überzeugendste Antwort.
Der Stammtisch, den er von seinem Vorgänger übernommen hat, die Mails, die er beantwortet. Die Eröffnung eines Kleingartens, der Kuchenbasar an einer Schule, bei dem eine achte Klasse für die Berliner Krebsgesellschaft Spenden sammelte. Als er davon erzählt, werden seine Gesichtszüge weicher.
Doch jetzt ist Krieg. Und auch der Innenausschuss, in dem er sitzt, muss damit umgehen. Etwa mit dem Vorwurf, es komme zu ungleicher Behandlung von Geflüchteten. Offenbar gab es Fälle, auch in Berlin, wo Menschen, die seit Jahren in Unterkünften leben, in Hauruckaktionen umverteilt wurden. Und Menschen ohne ukrainischen Pass berichten davon, auf der Flucht aus dem Kriegsland schlecht behandelt worden zu sein.
Vom Zuhörer zum Gestalter werden, das will Demir jetzt ganz konkret. Er sagt, er wolle erreichen, dass alle Geflüchteten unabhängig von ihrer Nationalität Schutz bekommen. Er will eine Verordnung, die den Schutz für alle nicht nur empfiehlt, sondern garantiert.
Niemand bekommt einen Euro weniger wegen der 100 Milliarden.
Beim Sondervermögen für die Bundeswehr hat Hakan Demir sich vom Kanzler übergangen gefühlt. Trotzdem verteidigt er die sozialdemokratische Linie aus dem Koalitionsvertrag, er reiht sie in einem Nebensatz auf – die EEG-Umlage, die zwölf Euro Mindestlohn, der Heizkostenzuschuss – und sagt, natürlich seien diese Ziele nicht in Gefahr.
Wie geht es ihm, dem parlamentarischen Linken, dem Gastarbeiterenkel, dem Arbeiterkind, mit dem Gedanken, dass 100 Milliarden ausgerechnet an die Bundeswehr gehen sollen. Und nicht etwa in Grundsicherung, in soziale Projekte, in Bildung, an arme Familien?
„Niemand bekommt einen Euro weniger wegen der 100 Milliarden“, sagt Hakan Demir. Die Ampel könne sowohl Bundeswehr als auch Sozialpolitik. Beides geht, da sei er sich sicher. Nur muss man dafür an den Ergänzungshaushalt eben „nochmal ran“.
Erst mal geht Hakan Demir aber noch den Handyakku im Büro aufladen. In einer halben Stunde ist der nächste Termin.