Hartz IV: So wird die SPD ihren Fluch los

Wenn Historiker einmal den Niedergang der SPD im frühen 21. Jahrhundert beschreiben, werden sie den 16. August 2002 als den Tag markieren, mit dem der Weg zur 23-Prozent-Partei begann. Damals, vor zehn Jahren, verkündete der VW-Vorstand Peter Hartz die Ergebnisse der von ihm geleiteten Kommission.

Damit war die Vorlage geliefert für das, was Gerhard Schröder als „Reform“ am Arbeitsmarkt verkaufte. Darunter leidet die Sozialdemokratie bis heute. Große Teile der Wählerschaft konnten und können ihr nicht verzeihen (wir berichteten), dass ihr Kanzler im Grundsatz dem gleichen Politikmodell folgte wie Angela Merkel heute: den (Sozial-)Staat einerseits arm zu halten durch Schonung der Leistungsfähigsten in der Steuerpolitik – und ihn andererseits auf Kosten seiner Leistungen zu sanieren. Allerdings: Zehn Jahre später gibt es Hoffnung, dass die SPD aus diesem Fehler doch gelernt hat.

Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel gehörte damals zu den Wenigen im rot-grünen Umfeld, die sich dem Schröderschen Diktum vom „großen Wurf“ hörbar widersetzten. Hickel erkannte durchaus Positives wie etwa die Einbeziehung arbeitsfähiger Sozialhilfe-Empfänger in die Arbeitsmarktpolitik. Aber er fügte hellsichtig hinzu: „Der versprochene Abbau der Arbeitslosigkeit...erfolgt nicht durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Vielmehr wird...der Druck erhöht, billige und unterqualifizierte Jobs anzunehmen.“

Die Krise ist die Chance der SPD

Heute lobt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles zwar die „Verdienste“ der Schröder-Agenda, benennt aber Fehler wie den „starken Aufwuchs prekärer Beschäftigungsverhältnisse“. Das klingt mehr nach Hickel als nach Schröder, und das Schöne ist: Wer den Sozialdemokraten die Einsicht immer noch nicht abnimmt, kann sie in diesen Tagen auf die Probe stellen.

Die europäische Krise, so bedrohlich sie ist, könnte der SPD die Chance bieten, ihre Glaubwürdigkeit als diejenige Partei zurückzugewinnen, die wirtschaftliche Kompetenz mit sozialem Ausgleich verbindet. Sigmar Gabriel hat damit in diesem Sommer begonnen. Er hat die dringend notwendige Regulierung des Finanzsektors zur Sprache gebracht. Er hat zum wiederholten Mal auf die Notwendigkeit hingewiesen, den finanziell Leistungsfähigsten auch höhere Leistungen zur Sanierung der Staatsfinanzen abzuverlangen. Und zwar nicht aus einem Ressentiment gegen die Reichen, das konservative Politiker und Medien noch jedem unterstellen, der ein gerechteres Steuersystem verlangt. Sondern im Interesse eines funktionierenden Gemeinwesens, von dem ja auch die Wohlhabenden profitieren.

Schließlich hat sich Gabriel auf die Suche nach dem künftigen Europa gemacht, nach der Architektur einer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Union, gemeinsame europäische Anleihen inklusive. Dieser Punkt könnte sich noch als strategisch besonders wichtig erweisen: Der nationale Egoismus des Exportweltmeisters, der von den Schulden der anderen profitierte und jetzt möglichst wenig damit zu tun haben will, kann nicht lange funktionieren, wenn rundherum die Kundschaft pleitegeht. Und wenn uns dann die Krise doch noch erreicht, ist es gut, wenn auch andere Vorschläge auf dem Tisch liegen als Krisenmanagement à la Merkel.

Nun sind die Sommer-Interviews eines Sigmar Gabriel noch keine Erfolgsgarantie für die nächste Wahl. Rot-Grün ist weit davon entfernt, als echte Alternative Strahlkraft zu entwickeln. Zumal dann, wenn ein Jürgen Trittin sich von Gabriel mit leeren Sprüchen wie „Die Banken stehen nicht zur Wahl“ distanziert, obwohl seine Partei das Gleiche will wie die SPD.

Drei Kandidaten? Macht nichts!

Um so dringender muss die SPD die von Gabriel angedeuteten Themen in eine gut verständliche, seriöse Programmatik gießen. Der Vorsitzende ist dazu da, diesen Prozess zu leiten. Und er hat recht, wenn er sagt: Erst wenn das Programm steht, ist der Kanzlerkandidat zu bestimmen, der die Inhalte am besten gegen Merkel vertritt – mit scharfer Kante, ohne heimliche Sehnsucht nach Platz zwei in einer großen Koalition, offen im Umgang mit den neoliberalen Verirrungen der Partei in den vergangenen Jahren, aber mit jenem Grad an Verbindlichkeit im Auftreten, das auch wankende Wähler zu überzeugen vermag.

Viel spricht dafür, dass das weder der flapsige Gabriel sein wird noch der selbstgerechte Ex-Neoliberale Peer Steinbrück, sondern der eher bescheidene und lernfähige Frank-Walter Steinmeier. Aber nichts spricht dafür, sich von einer auf Personen und Machtkämpfe fixierten Öffentlichkeit zu einer verfrühten Kandidatenkür verleiten zu lassen. Das fordern oft dieselben, die am Tag nach der Ernennung die Jagd auf ihn und die rot-grüne Programmatik eröffnen würden. Die nächste Wahl ist zu wichtig, als dass die größte Oppositionspartei ihre ohnehin geringen Chancen auf diese Weise verspielen dürfte.