Hitler, der Missbrauch und die Bischöfe

Der Zusammenhang zwischen Nationalsozialisten und Kirche muss im Sinne historischer Selbstaufklärung endlich erforscht und dargestellt werden.

Kerstin Stirner und Björn Gercke überreichen den Missbrauchsbericht an Rainer Maria Kardinal Woelki (l.).
Kerstin Stirner und Björn Gercke überreichen den Missbrauchsbericht an Rainer Maria Kardinal Woelki (l.).AFP

Wenn derzeit von Kardinal Woelki, katholischen Geistlichen und sexuellem Missbrauch gesprochen wird, erklingt nicht selten der Ruf nach der Strafjustiz. Neu ist das nicht: 1936/37 wurde in Deutschland wegen sexuellen Missbrauchs gegen Hunderte Priester und Ordensleute ermittelt. Schnell waren rund 250 einschlägige Verfahren anhängig. Während der öffentlich inszenierten Prozesse durchsuchte die Gestapo die Generalvikariate der Bistümer Köln und Aachen. In Trier beschlagnahmte sie die Personalakten von 52 Geistlichen und filzte die Privatwohnung des Bischofs wegen „geistlicher Sittlichkeitsverbrechen“.

Die Fakten sind bekannt, jedoch betonen Kleriker und willige Historiker bis heute vor allem, die NS-Regierung habe „die Kirche vor dem Volk verächtlich“ machen und den „Kirchenkampf“ steigern wollen. Das stimmt – jedoch stimmten die strafrechtlichen Vorwürfe in den allermeisten Fällen auch. Ebendarum drückte sich Hans Günter Hockerts in seinem 1971 erschienenen Standardwerk über diese Sittlichkeitsprozesse. Er sprach viel vom „politischen Missbrauch der Justiz“ und setzte nebenbei die Opfer herab.

Da entlief zum Beispiel ein geistig behinderter Junge aus einer katholischen Anstalt, beging einen Einbruch, wurde erwischt und beschuldigte „dann mehrere Brüder homosexueller Vergehen“. Über das Alter des Anzeigenden schweigt Hockerts, um wenige Zeilen später festzustellen: Die „Ermittlungen bestätigten die Angaben des Zöglings weitgehend“. Bald reisten Beamte der Gestapo „von Kloster zu Kloster“ und unterzogen dort „Brüder, insbesondere aber die Schulkinder, Lehrlinge, die kranken Insassen etc. einem eingehenden Verhör“. Innenminister Frick sprach von „klösterlichen Brutstätten des Lasters“ und von einem wohlorganisierten „Vertuschungssystem“. Goebbels wetterte im Reichsrundfunk gegen „die katholische Sexualpest“, die „herdenmäßige Unzucht“ und geißelte „die sittliche Vernichtung Tausender Kinder“.

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Keine Frage: Es handelte sich um eine politisch motivierte Kampagne. Aber das rechtfertigt nicht, dass der kirchennahe Historiker Hockerts von „leicht beeinflussbaren Pfleglingen“, von „geistesschwachen Zeugen“ und von „rachsüchtigen Motiven“ spricht und zustimmend zitierend von der „sexuell in besonderem Maße geladenen Atmosphäre von Schwachsinnigenanstalten“ schwadroniert. Im Gegensatz dazu fertigte der Trierer Domvikar Dr. Peter Maid diese interne Notiz: „Wenn die Brüder gegenüber ihren Oberen so offen und geständig gewesen wären wie vor dem Staatsanwalt, wäre es sicher nicht so weit gekommen.“ Milde urteilende Richter konstatierten: In vielen Ordenseinrichtungen seien „derartige Dinge an der Tagesordnung“.

Ich erzähle diesen Teil der Nazi-Geschichte nicht, um die aktuelle Debatte historisch anzuheizen. Mir geht es um etwas anderes. Insgesamt – speziell im Vergleich zu den protestantischen Landeskirchen – war die römisch-katholische Kirche in der Nazizeit zunächst eine Kraft des Widerstands. Das ehrt sie bis heute. Aber Hitler und seine Mitarbeiter erkannten schlafwandlerisch, wie sehr katholische Würdenträger am Punkt des sexuellen Missbrauchs von Abhängigen, Kindern und Jugendlichen erpressbar waren. Das nutzten sie aus (später auch in Wien). Auf solche Weise wurden Bischöfe und Priester als Zum-Schweigen-Gebrachte mitschuldig an den deutschen Verbrechen. Diese Zusammenhänge müssen im Sinne historischer Selbstaufklärung endlich erforscht und dargestellt werden. Ich hoffe, dass die gegenwärtige Debatte auch dazu beiträgt.