Hölle von Aleppo: „Wir sind von der Landkarte der Menschheit getilgt“

Die Aufständischen sind am Ende – und schöpfen doch wieder Hoffnung. Wer noch lebt, schickte in den letzten Tagen per Twitter, WhatsApp oder Facebook Abschiedsworte an Freunde und Familie. „Ich warte darauf zu sterben oder vom Assad-Regime gefangen zu werden“, schrieb der Fotograf Ameen al-Halabi. „Betet für mich und erinnert euch immer an uns.“

Atemlos berichtete ein anderer Aktivist in seine Handykamera, während über seinem Kopf russische und syrische Jagdbomber hinwegdonnerten. „Hier herrscht totales Chaos. Tote liegen auf den Straßen. Verletzte verbluten, weil kein Arzt ihnen mehr helfen kann“, sagte er.

Eingepfercht unter Ruinen

Menschen sind unter zerbombten Ruinen eingeklemmt und schreien verzweifelt um Hilfe. Die Weißhelme jedoch können nichts mehr tun, weil sämtliche Fahrzeuge zerstört und die Retter in alle Winde zerstreut sind. „Unser Schicksal ist besiegelt“, erklärte der Sprecher der Zivilschützer, die erst vor drei Monaten mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden waren.

Doch am Dienstagabend gab es einen ersten Hoffnungsschimmer für die hungernden und frierenden Eingeschlossenen. Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin erklärte vor dem UN-Sicherheitsrat in New York, die syrischen Regierungstruppen hätten die vollständige Kontrolle über  Aleppo übernommen. Die Gefechte im Osten seien beendet, nun beginne die humanitäre Versorgung der Menschen. Die Rebellen hatten sich zuvor mit dem Regime auf einen Abzug der Kämpfer und Zivilisten geeinigt.

Wie ein Sprecher der Aufständischen präzisierte, sollen alle Evakuierten wählen können, ob sie in die vom Regime kontrollierte Provinz Aleppo oder in die von Aufständischen beherrschte Region um die Stadt Idlib gehen wollen. Die USA verlangten, internationale Beobachter müssten den Transfer der Menschen überwachen. Vonseiten des Regimes fehlt bisher eine offizielle Bestätigung.

Äußerste Brutalität

Unterdessen gehen die Assad-Truppen gegen die verbliebenen Zivilisten in Aleppo mit äußerster Brutalität vor, durchkämmen systematisch die frisch eroberten Viertel. Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte haben sie in den letzten 48 Stunden bereits 82 Menschen exekutiert, darunter auch Frauen und Kinder. Aktivisten vor Ort sprechen sogar von 180 bis 200 Hingerichteten.

„Wir sind von der Landkarte der Menschheit getilgt“, twitterte einer von ihnen. Die Informationen seien glaubwürdig und man kenne die Namen der Opfer, erklärte UN-Sprecher Rupert Colville in Genf. Die Vereinten Nationen hätten schlimmste Befürchtungen für alle, die sich noch „in den letzten höllischen Ecken des aufständischen Ost-Aleppos“ befänden. Man habe Berichte erhalten, „dass Pro-Assad-Kräfte in Wohnungen eindringen und alle töten, die sie vorfinden“, sagte er. Andere hätte fliehen können, seien dann offenbar verhaftet oder auf der Stelle erschossen worden.

Bereits in den letzten Tagen wurden nach UN-Angaben mindestens 500 Männer, die von der Rebellenenklave in den Regimeteil Aleppos geflohen sind, verhaftet und sind seitdem spurlos verschwunden. Andere wurden sofort als Soldaten zwangsrekrutiert.

Tote Kinder nach Giftgasangriff

Bis zuletzt drängten sich in einigen Straßenzügen der Aufständischen noch mindestens 100.000 Menschen, die sich weigerten, in den vom Regime kontrollierten Westen zu gehen. 130.000 der schätzungsweise 250.000 umzingelten Bewohner waren in den letzten beiden Wochen aus dem Rebellenteil geflohen.

Unterdessen wurden nach einem Bericht der Hilfsorganisation Union of Medical Care and Relief Organizations (UOSSM) am Montag nahe der zentralsyrischen Stadt Hama bei einem Giftgasangriff 93 Zivilisten getötet und mehr als 300 verwundet.

Kampfjets sollen Bomben auf mehrere Dörfer abgeworfen haben, die von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrolliert werden. Der Angriff mit einer geruchs- und farblosen Chemikalie habe sich östlich von Hama ereignet, teilte die Organisation mit. Viele Opfer seien Kinder. Die meisten seien sehr schnell gestorben, die Leichen hätten Schaum vor dem Mund gehabt und keinerlei äußere Verletzungen.

Rückschlag und Rückeroberung

Im Osten Syriens musste das Regime dagegen einen spektakulären Rückschlag hinnehmen. Völlig überraschend eroberte der IS am Wochenende zum zweiten Mal die weltberühmte antike Oasenstadt Palmyra und könnte das archäologische Juwel nun endgültig zerstören. Eine Serie russischer Luftangriffe in letzter Minute konnte den IS-Einmarsch nicht mehr abwenden, den die Propagandisten der Terrormiliz jetzt als großen Erfolg feiern.

Erst sieben Monate ist es her, dass sich das syrische Regime und ihr russischer Verbündeter weltweit für die Rückeroberung und Rettung von Palmyra feiern ließen. Der Sieg galt damals als der bis dahin wichtigste Meilenstein im Kampf gegen den IS und sollte den westlichen Vorwürfen begegnen, Moskau bekämpfe vor allem die Assad-Opposition und tue nichts gegen das Terrorkalifat.