Ingo Schulze zu Antje Vollmer: „Politikerin, Diplomatin, Versöhnerin“

Antje Vollmer ist verstorben. Der Schriftsteller Ingo Schulze erinnert sich an sie. Er ist einer der Mitgründer der Gruppe „Neubeginn“, deren Ziel es war, dem Frieden eine Stimme zu geben.

Antje Vollmer ist mit 79 Jahren am 16. März 2023 verstorben.
Antje Vollmer ist mit 79 Jahren am 16. März 2023 verstorben.Imago

Obwohl sie körperlich ausgezehrt und geschwächt war, war ihr Verstand klar und ihr Wille stärker denn je. Beide Fäuste erhoben, rief sie: „Ich bin für alles, was sich gegen diesen Kriegswahnsinn auflehnt! Ich mache bei allem mit!“ Trotz ihrer Empörung klang sie noch liebevoll, um Verständnis ringend, weil sie ihren Gegenüber überzeugen wollte, der mit Formulierungen des gemeinsamen Textentwurfes haderte, auch wenn er diesen grundsätzlich richtig fand.

Es ist schwer, über jemanden zu schreiben, den ich unendlich bewundert habe. Ich kannte Antje Vollmer aus den Medien, aber im Grunde wusste ich sehr wenig über sie, als ich sie zum ersten Mal im Frühsommer 2013 bei einer Theateraufführung in Cottbus traf. Sie sprach mich ohne Umschweife an, ermutigte, erzählte, stellte Unbekannte einander vor, man sollte um sich wissen.

Lesen Sie hier den Vermächtnistext von Antje Vollmer, den die Politikerin kurz vor ihrem Tod exklusiv für die Berliner Zeitung verfasst hat

Gegen die große Koalition

Als wir uns ein paar Monate später zufällig in Berlin über den Weg liefen, war sie voller Empörung über die Absicht der SPD, erneut in eine große Koalition einzuwilligen, wo es doch andere Optionen gäbe, und sei es die, in die Opposition zu gehen. Wir müssten doch etwas unternehmen, wir könnten das doch nicht einfach hinnehmen. Ich muss sie wohl sehr ratlos angesehen haben. Wir sollten uns umgehend treffen und darüber beraten. Wenig später meldeten wir einen Verein an, der sich diesem Anliegen verschrieben hatte, sie brachte ein kleine Gruppe zusammen, die einen Text entwarf, sie hatte Kontakt zu einer Handvoll junger Leute, die es übernahm, diese Ideen übers Netz zu verbreiten und einen Aufruf zu starten.

Es war aufreibend, so eine Unternehmung ohne Geld und ohne Angestellte und ohne Büro zu starten und auf die Beine zu stellen. Immerhin kamen mehr als zehntausend Unterschriften zusammen, es gab verschiedene Aktionen, bekanntlich hatten wir keinen Erfolg, aber immerhin hatten wir es versucht und öffentlich widersprochen. Genauso wichtig war es, dass ich plötzlich Menschen kannte, die ich ohne Antje niemals kennengelernt hätte. Wir blieben zusammen und versuchten uns an der einen oder anderen Aktion, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.

Antje Vollmer wird als eine Vermittlerin genannt werden

Ihre Hauptarbeit, so könnte man meinen, waren in dieser Zeit ihre Bücher, von denen innerhalb weniger Jahre etliche, zum Glück auch mit Preisen bedachte, erschienen, sei es über „Doppelleben: Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop“, die beiden Bücher über Fassbinder und Konrad Wolf, die sie zusammen mit Hans-Eckardt Wenzel schrieb und andere mehr. Sie war so vieles, eine Schriftstellerin, eine Politikerin, eine Diplomatin, eine Versöhnerin, das machte sie zu einer historischen Persönlichkeit schon zu Lebzeiten, aber sie erfüllte, belebte und verband all diese Bereiche mit einer Gabe zur Freundschaft, die wohl alle, die damit beschenkt wurden, als einzigartig erfuhren.

Und sie hat nie aufgegeben. Es gäbe so viel aufzuzählen, was sie mehr oder weniger im Verborgenen versucht hat. Mich hat immer beeindruckt, dass sie ins Gefängnis gegangen ist, um mit den als Terroristen Verurteilten RAF-Mitgliedern zu sprechen. Und wenn einmal die Geschichte Tibets der letzten drei Jahrzehnte geschrieben wird, wird Antje Vollmer als eine Vermittlerin genannt werden, die kurz davorstand, den Gordischen Knoten zu zerschlagen.

„Ich fühle mich jetzt frei“

Trotz etlicher Zweifel hoffte sie, hofften viele mit ihr, mit „Aufstehen“ eine Bewegung auf den Weg bringen zu können, die jene Interessen und Notwendigkeiten formuliert und auf die Straße und in die Parlamente trägt, die durch die Parteien vernachlässigt, ignoriert oder zu Lippenbekenntnissen verkommen waren. Es war ein großer Anspruch, der leider genau daran scheiterte, was wir hatten überwinden wollen. Wir hatten nicht nur etwas nicht besser gemacht, sondern schlechter, auch wenn es immerhin einzelne Gruppen gibt, die sich bis heute engagieren und wirksam sind.

Ein kleiner Kreis blieb zusammen, der sich den Namen „Neubeginn“ gab, und dessen Seele und Anregerin Antje Vollmer als prima inter pares war. Neben verschiedenen Initiativen und Schriften unserer Gruppe war und ist es vor allem immer die Art und Weise gewesen, wie wir mit unterschiedlichen Ansichten umgehen, wie wir einander bestärken oder einander aushalten, eine Zugewandtheit und Offenheit, die uns Antje Vollmer gewissermaßen vorgelebt hat. Ihr Vermächtnis ist sicherlich weitaus größer als ihre letzte Wortmeldung, die in dieser Zeitung erschienen und nachzulesen ist. Ich habe meine Kinder noch nie darum gebeten, irgendetwas zu lesen, in diesem Fall aber schon. Antjes letzte Mail nach Erscheinen des Artikels endet mit den Worten: „Ich fühle mich jetzt frei.“

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