Medizinstatistiker Antes: „Die Leute machen den Mund sehr wohl auf“

Der Mathematiker Gerd Antes über Interessenskonflikte zwischen Politik, Wissenschaft und der Pharma-Industrie.  

Gerd Antes
Gerd AntesWort & Bild Verlag/Silke Werner

Berliner Zeitung: Sie haben vor kurzem einen Offenen Brief an die Parteien im Bundestag gerichtet, in dem Sie Fragen zu den nach der Wahl geplanten nächsten Schritten in der Corona-Pandemie stellen. Wie haben die Parteien reagiert?

Gerd Antes: Gar nicht, außer die FDP – Christian Lindner hat eine detaillierte Antwort geschickt. Die Grünen haben sich jetzt gemeldet und behauptet, sie hätten den Brief nie erhalten. Das stimmt nicht. Wir haben die Übergabe auf einem Foto festgehalten.

Wie erklären Sie sich diese Nicht-Reaktion?

Ich habe nicht die geringste Erklärung dafür. Ich stimme mit Bundeskanzlerin Merkel überein, die gesagt hat, die Pandemie ist die größte Herausforderung für Deutschland seit 1945. Es ist völlig unverständlich, dass die Parteien dieses Thema aus dem Wahlkampf heraushalten. Es ist doch das Thema, das wie kein anderes die Leute umtreibt. Das sehen wir auch an unserem Brief: Zu Beginn hatten wir 100 Unterzeichner, jetzt stehen wir innerhalb von nicht einmal drei Wochen bei 3500. Richter, Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler haben unterschrieben, also Leute, die Gewicht haben.

Und das Thema wird trotzdem ausgeblendet?

Die politischen Parteien vermeiden seit anderthalb Jahren, sich festzulegen. Das können wir uns aber bei einer solch wichtigen Frage nicht leisten. Vor allem deswegen, weil wir in vielen Fragen noch immer genau dort stehen, wo wir zu Beginn der Pandemie gestanden haben. Am Anfang haben alle die Unentschlossenheit verstanden. Doch irgendwann ist der Diskurs nicht mehr rational geführt worden. Politik, Wissenschaft und Medien haben Panik und Alarmismus verbreitet. Das betraf mehr oder weniger alle öffentlichen Bereiche. Etwa die Schulen, was besonders schlimm ist, weil die Kinder zu den Hauptleidtragenden der Einschränkungen gehören. Ein Jahr später agieren wir immer noch gleich wie vor einem Jahr. Wir machen die einfachen Dinge nicht, die ganz leicht zu machen wären.

Schon im Frühjahr 2020 hat man zum Beispiel gesagt, Luftfilter in den Schulklassen wären gut. Geschehen ist aber nichts.

Es ist noch viel absurder: Ich kenne einen Fall, wo die Eltern auf eigene Rechnung Luftfilter installieren wollten. Die Schulverwaltung hat es nicht erlaubt. Die Erklärung lautete: Da können wir nicht machen, weil die Filter nicht sicher aufgestellt werden können. Sie könnten also umfallen und könnten so zu einer Gefahr für die Gesundheit der Kinder werden. Stattdessen hat man dann monatelang die Schulen geschlossen. Die Wissenschaft hat von der ersten Minute an nicht gemacht, was sie hätte machen müssen, dasselbe gilt für die Politik. Vor allem das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat eine klägliche Rolle gespielt. Man hat der Charité 150 Millionen Euro gegeben mit dem Auftrag, die Zusammenarbeit in einem Universitätsnetzwerk zu koordinieren. Der relevante Output ist gemessen daran alles andere als beeindruckend.

Was ist Ihr Eindruck: Trauen sich die Leute nicht, Fehlentwicklungen zu kritisieren, um nicht als Corona-Leugner abgestempelt zu werden?

Beratung im Bundeskabinett in Corona-Zeiten
Beratung im Bundeskabinett in Corona-ZeitenAFP/Tobias Schwarz

Das kann ich nicht beobachten. Die Leute machen den Mund sehr wohl auf. Aber Medien und Politik greifen diese Punkte nicht auf. Im Gegenteil: Hoch angesehene Virologen wie Hendrik Streeck werden namentlich attackiert. Der Leiter der Wissenschaftsredaktion der FAZ hat einen unsäglichen Artikel geschrieben, in dem er einen der bekanntesten und anerkanntesten  Public-Health-Experten, John Ioannides, von der Stanford-Universität unsachlich diskreditiert hat. Hinzu kommt eine deformierte Beraterstruktur.

Was meinen Sie mit deformiert? Korrupt?

Nein. Die fachliche Auswahl  der Experten war immer wieder völlig unangemessen, um für die schwierige Situation geeignete Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. In einer Beratersitzung der Bundeskanzlerin saßen zwei Physiker und nur ein Kliniker, der Patienten sieht. Das Problem, das wir haben, ist doch ein medizinisches Problem, ein Public Health-Problem. Es ist ganz sicher kein physikalisches Problem. Genauso haben natürlich auch Virologen ihre Grenzen. Sie sind Laborwissenschaftler und keine Experten für die Übertragungsdynamik oder Apps zur Nachverfolgung. Es müssen die verschiedenen Disziplinen zusammengebracht werden und die Übergriffigkeit von Experten beendet werden, die sich zu Themen äußern, zu denen sie nicht mehr wissen als der durchschnittliche Naturwissenschaftler oder sogar nur ein Abiturient.

Gäbe es dazu einen Ort, wo das möglich wäre?

Die Deutsche Forschungsgesellschaft wäre ein solcher Ort, genannt wird jedoch immer wieder die Leopoldina. Dort sehe ich ein großes Versagen. Weder die Rekrutierung der Mitglieder noch andere Qualitätsanforderungen wie unter anderem die Offenlegung von  Interessenskonflikten schaffen für die Krisenbewältigung geeignete Entscheidungsgrundlagen. Bisher sind hier die richtigen Schritte nicht einmal angedacht, geschweige denn eingeleitet.

Welche Interessenskonflikte meinen Sie?

Der Chef des Robert Koch Instituts (RKI), Lothar Wieler, ist ein Angestellter des Bundesgesundheitsministeriums. Er kann nicht gleichzeitig als Wissenschaftler auftreten und so tun, als würde er unabhängig forschen. Dasselbe gilt für den Infektionsmodellierer Dirk Brockmann. Er tritt oft als Wissenschaftler der Humboldt-Universität auf, diese Professur wird jedoch vom RKI finanziert. Dann sitzt er bei Lanz in der Talkshow und kommentiert die massiv falschen Vorhersagen des RKI für Mitte April 2021, ohne dass seine Rolle klar gemacht wird. Gerade die Modellierer waren im Frühsommer eine der ganz großen Schwachstellen. Würde in einem privaten Unternehmen so gearbeitet, hätte das längst Konsequenzen. Der von der Kanzlerin gerne zu Rat gezogene Mobilitätsforscher Nagel hat für Anfang Mai eine Inzidenz von 2000 vorhergesagt. Faktisch lag die Inzidenz dann unter 100. Wissenschaft kann und muss Fehler machen. Aber sie darf die Fehler nicht unter den Teppich kehren, indem etwa mittels Wortakrobatik aus einer „Prognose“ ein „Szenario“ gemacht wird, dass nicht als Vorhersage gedacht war.

Vor einigen Jahren gab es bei ARTE einen Film über die Korruption in der Pharmabranche, wo Ärzte und Wissenschaftler einträchtig mit der Industrie zusammenarbeiten. Gibt es das heute nicht mehr?

Das ist wohl immer noch so. Neu ist jedoch der Einfluss der Pandemie. Die Korruption bei einzelnen Wissenschaftlern und Ärzten ist nicht das Problem. Auch die wissenschaftlichen Abteilungen der Industrie sind nicht das Problem. Der größte Interessenskonflikt liegt nun zwischen den Ministerien und der Pharmaindustrie, zwischen der Europäischen Union und Staaten, zwischen der reichen und der armen Welt. Das hat mit den klassischen Interessenkonflikten nicht mehr viel zu tun. Weiterhin wird vieles nicht offengelegt. Es sieht aus wie paradiesische Verhältnisse für die Impfstoffhersteller. Bei Impfschäden übernimmt der Steuerzahler allfällige Schadensersatzzahlungen. In den USA und Europa hat die öffentliche Hand Unsummen für Produktionsstätten ausgegeben. Und vor einigen Tagen erklärt dann Biontech/Pfizer, dass der Preis für den Impfstoff kräftig erhöht wird. Die Kosten und Risiken werden sozialisiert. Die Gewinne dagegen bleiben in privater Hand.

In der Öffentlichkeit berufen sich die Unternehmen gerne auf Studien. Muss man hier nicht auch kritisch hinschauen?

Es gibt viele Entwicklungen, die neu sind und in die falsche Richtung laufen. Nehmen Sie die sogenannten Pre-Print-Server: Da werden Studien, die nicht durch die Peer Review gelaufen sind, ohne jede fachliche Bewertung öffentlich zugänglich. Und wenn man diese geschickt vermarktet, kann man damit innerhalb weniger Tage einen Artikel in der New York Times haben. Das hat seinen Preis. Es gibt sehr viele Studien, die werden veröffentlicht und dann wieder zurückgezogen. Die Qualität ist des ganzen Prozesses ist massiv beschädigt. Wir brauchen für alle diese Dinge eine Aufarbeitung. Es sollte eine Enquetekommission eingesetzt werden, die diese Entwicklungen und deren Konsequenzen nüchtern betrachtet und aufarbeitet, um daraus zu lernen. Leider bin ich nicht optimistisch, dass das geschehen wird.

Zur Person: Gerd Antes
Jahrgang 1949, Mathematiker und Methodenwissenschaftler am Universitätsklinikum Freiburg und seit Februar 2012 Honorarprofessor an der Medizinischen Fakultät der Universität Freiburg. Er war von 1997 bis Oktober 2018 Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums und davor Mitglied der Steering Group der Cochrane Collaboration (bis 2004). Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied (2001 – 2003 als Sprecher) des Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin. Diverse Tätigkeiten im Themenfeld der evidenzbasierten Medizin (z. B. Aufbau eines deutschen Registers für klinische Studien; Wissenstransfer in die medizinische Praxis). Mitglied in mehreren Beratungsgremien und wissenschaftlichen Beiräten zur systematischen Nutzung von Evidenz. Schwerpunkt seit über 10 Jahren: besserer Transfer von Ergebnissen aus klinischer Forschung in die medizinische Versorgung.

Warum? Weil man Angst hat, Fehler einzugestehen, oder weil die nächste Pandemie bestimmt kommt und man es dann wieder so machen kann?

Es ist sicherlich extrem erfreulich und bisher nie dagewesen, in so kurzer Zeit wirksame Impfstoffe zu entwickeln. Das ist etwas Neues. Aber man muss nun auch die Regeln neu machen. Ich kenne einen Fall in München. Da ist Impfstoff übriggeblieben, und die Ärzte wollte ihn nach Uganda schicken, bevor er verfällt. Doch es wurde ihnen verboten, weil in den Verträgen steht, dass eine Abgabe außerhalb der EU nicht gestattet ist.

Sie sind einer der Gründer der evidenzbasierten Medizin, also ein Verfechter der maximal möglichen Rationalität. Hat man heute die Evidenz durch die Angst ersetzt, weil man dann weniger begründen muss?

Einer der wichtigsten Anliegen der evidenzbasierten Medizin war die Abschaffung der interessengesteuerten Experten. Das ist heute leider wieder beträchtlich zurückentwickelt, wie sich in den Talk-Runden beobachten lässt. Wie dort Expertenmeinung verkündet wird, ohne dass intensiv nachgefragt wird, ist weit von den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin entfernt und hat uns wieder ein Stück zur viele Jahre dominierenden „eminenzbasierten“ Medizin zurückgeführt.

Welche Parameter müssten bei künftigen Pandemien verwendet werden, damit wir rational arbeiten können?

Wir haben zwei Datenquellen: Das eine sind die Daten, die wir im Infektionsgeschehen erheben. Und dann brauchen wir mindestens eine Kohorten-Studie – die es in Deutschland nach anderthalb Jahren noch immer nicht gibt. Vielleicht 40.000 bis 60.000 Menschen sollten durch Untersuchungen, zum Beispiel durch regelmäßige Blutabnahmen ein Abbild unserer Gesellschaft liefern, das als Grundlage für das Pandemiemanagement dienen kann. Wir müssen von Dunkelziffern wegkommen, weil diese immer dazu führen, dass undifferenziert Maßnahmen ergriffen werden. Die Daten müssen sinnvoll so erfasst werden, dass man danach auch steuern kann. Man hätte von Anfang über die Erfassung der Berufsgruppen bei den positiven Tests ein schnelleres Verstehen der Infektionsschwerpunkte gelingen können..

Wie kann man das mit dem Datenschutz vereinbaren?

Ich bin ein überzeugter Verfechter des Datenschutzes, wir haben in der EU sehr gute Regelungen. Doch wenn der Datenschutz Einsichten verhindert, die leicht zu haben wären, dann müssen diese Punkte überdacht werden. Der Datenschutz darf kein Selbstzweck sein und in der gegenwärtigen Not muss er seine Funktion erfüllen, jedoch auch an die Grenzen gehen, wo er seine Funktion noch erfüllt.

Ein Blick in die Zukunft: Brauchen wir eine Impfpflicht, damit wieder alles gut wird?

Ich bin ein Gegner der Impfpflicht und bin auch gegen eine, die durch Umwege über Verbote für und den Ausschluss von Ungeimpften erzwungen wird. Jeder hat ein Impfangebot bekommen. Jetzt geht es um den Selbstschutz und die Aufklärung in den vulnerablen Gruppen. Dazu gehören jene, die in prekären Verhältnissen in größeren Familienverbänden auf engem Raum zusammenleben. Wir müssen gezielt vorgehen und uns mit Überzeugung und Respekt um alle diese Menschen kümmern. Die nun wieder aufkommende Panikmache ist unangebracht. Die Ankündigung von Herrn Wieler, wir müssten uns auf eine „fulminante“ vierte Welle einstellen, halte ich für unhaltbar.