Interview mit Kristian Brakel: Satire-Streit als Teil von Erdogans Paranoia

Das Vorgehen der türkischen Regierung an deutschen Medien, die bis zur Verdrängung deutscher Korrespondenten aus der Türkei geht, wirkt von Deutschland aus oft irrational. Doch Präsident Erdogan und seine Partei AKP haben innenpolitische Motive, sagt Kristian Brakel, Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.

Herr Brakel, Präsident Erdogan hat mit seiner Empörung über die NDR-Satire das Video erst Millionen Zuschauer beschert. Ein Eigentor?

Nicht unbedingt. Zunächst ist nicht klar, ob die Einbestellung des deutschen Botschafters öffentlich werden sollte. Aber selbst wenn, muss das Erdogan  nicht schaden. Die türkische Bevölkerung ist sehr polarisiert, und in der Diskussion über das NDR-Video zeigt sich durchaus, dass der Vorfall Erdogans Anhänger mobilisiert, sich für ihn einzusetzen. Neue Sympathien fliegen ihm dadurch aber sicher nicht zu. Die Spaltung in seine Anhänger und Gegner  bestand längst. Wegen des Videos wechselt keiner die Seite.

Die deutsche Öffentlichkeit reagiert verschnupft, wenn etwa Polen oder Griechen Angela Merkel verspotteten. Wie äußern sich die Türken zum deutschen Spott über Erdogan?

Generell ist unter Erdogan-Anhängern die Ansicht verbreitet, dass das Ausland versucht, ihn madig zu machen und der türkischen Nation zu schaden. Das betont auch Erdogan immer wieder – und Deutschland ist da eine Art Lieblingsfeind. In diese Kette von Vorfällen, die die Regierung als Beleg für diese Weltsicht nutzt, wird nun auch der aktuelle Fall eingeordnet.

Dass sich die Regierung also überhaupt mit so einem Filmchen beschäftigt, ist Teil der Taktik, sich als Opfer haltloser Schmähung aus dem Ausland zu inszenieren?

Es gibt viele Gründe, aber alle sind innenpolitisch motiviert. So wächst seit den Protesten im Gezi-Park und den von der Gülenbewegung angetriebenen Korruptionsermittlungen gegen die AKP von 2013 die Paranoia, es gebe von außen gesteuerte Angriffe. Erdogan verfolgt mit Argusaugen, was im In- und Ausland über ihn geschrieben wird. Er soll eine Armada von Anwälten beschäftigen, die den kleinsten Internet-Kommentar aufspüren und den Verfasser wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht schleifen. Ein anderer Grund für die Gereiztheit: Zum traditionell starken Nationalismus gehört die Vorstellung, dass das Ausland nur aus Gegnern besteht, die der Türkei schaden wollen. Diese Ängste beschwört Erdogan in den letzten Jahren vermehrt herauf, weil sie nicht nur bei Islamisten und Nationalisten verfangen, sondern auch bei Türken, die der AKP nicht unbedingt nahestehen.

Wieso ist das erfolgreich?

Europa hat dazu seinen Beitrag geleistet, denn es ließ die EU-Begeisterung und den Reformwillen vieler Türken jahrelang aus sachfremden Gründen ins Leere laufen. Die Türken hatten – nicht ganz zu unrecht – den Eindruck, dass die Europäer abschätzig auf sie hinabblicken und das Land nicht für voll nehmen. Bis heute merkt man Erdogans Reden an, dass ihn das auch persönlich getroffen hat. Deshalb will er jetzt zeigen, dass diese Zeiten vorbei sind. Das will er mit allen Mitteln beweisen – auch im Rahmen des Flüchtlingsdeals mit der EU.

Muss sich die EU also noch auf andere Folgen der neuen Abhängigkeit von der Türkei einstellen?

Was die AKP angeht, herrschte da schon immer die Überzeugung, dass das Gerede der EU-Politiker von „europäischen Werten“, denen sich die Türkei vor Beitrittsverhandlungen erst nähern müsse, nur vorgeschoben war. Der Flüchtlingsdeal dient dafür jetzt als indirekte Bestätigung. Vielleicht liegt deshalb aus Erdogans Sicht nun die Devise nahe: Wenn die EU alle Bedenken gegen mich über Bord wirft, können wir jetzt auch unsere Vorstellung von Pressefreiheit demonstrieren  – auch als Geste der Stärke. Insgesamt ist erst einmal nicht zu erwarten, dass die Türkei demokratischer wird. Aber das heißt ja nicht, dass die EU stumm zusehen muss. Man darf nicht vergessen: Auch die Türkei profitiert vom Flüchtlingsdeal.

Wie eingeschränkt ist die Pressefreiheit in der Türkei denn schon? Muss sich ein Ausländer sorgen, dass seine Mediennutzung registriert wird?

Nein, die Aufmerksamkeit liegt auch für Türken nicht auf der Nutzung, sondern auf Veröffentlichungen. Das aber geht soweit, dass deutsche Korrespondenten wie die von Spiegel und Welt Ärger für kritische Berichte bekamen  – für Texte, die in Deutschland erschienen. Denn die in Deutschland lebenden Türken sind eine wichtige, wachsende Wählergruppe für die AKP.