Lukaschenkos Rivalin: Mich beeindruckt Stauffenbergs Versuch, Hitler zu töten

Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja lebt im Exil, auch wegen ihrer Kinder. Sie sagt, die Revolution in Belarus wird kommen.

Belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja
Belarussische Oppositionsführerin Swetlana TichanowskajaBenjamin Pritzkuleit

Berlin - Die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja lebt seit fast zwei Jahren im litauischen Exil. Die gefälschten Präsidentschaftswahlen im August 2020 teilen ihr Leben in ein Davor und Danach. Aus dem Exil macht sie sich für die belarussische Demokratiebewegung stark. Sie spricht weltweit mit Staats- und Regierungschefs, hält Reden, erhält Auszeichnungen wie den Karlspreis 2022. Nicht wenige spekulieren, dass Tichanowskaja auch irgendwann den Friedensnobelpreis bekommen wird. Wir trafen sie in einer Hotellobby im Berliner Stadtzentrum.

Frau Tichanowskaja, hätte man bei den Protesten 2020 in Belarus Gewalt anwenden müssen, um Lukaschenko zu stürzen? Im Vergleich zu den Maidan-Protesten waren sie durchweg friedlich.

Das sind zwei sehr unterschiedliche Situationen. In der Ukraine herrschte Demokratie, es gab einen demokratischen Machtwechsel. Die Belarussen hingegen hatten 27 Jahre unter einem totalitären Regime gelebt. 2020 haben die Leute getan, was sie konnten, um Lukaschenko zu stoppen. Für viele von ihnen war es der erste Protest überhaupt, die allermeisten waren zu mehr als friedlichen Demonstrationen noch nicht bereit. Das liegt auch an der friedlichen Mentalität der Belarussen. Ich höre und verstehe die Kritik aus der Ukraine, dass wir zu friedlich waren – aber die Situation in Belarus ist ungleich komplizierter und gefährlicher gewesen.

Das Momentum der Proteste gegen die gestohlene Wahl ist weg. Aber es gibt noch immer Widerstand in Belarus. Wer wagt es noch, sich gegen Lukaschenko zu stellen?

Es sind kleine Initiativen und Gruppierungen, die im Moment Widerstand leisten. Meist im Verborgenen, denn in dieser totalen Tyrannei offen sichtbar zu protestieren, ist zu gefährlich, zu viele landen im Gefängnis. Schon jetzt haben wir Tausende politische Gefangene, Hunderttausende mussten fliehen, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Aber die meisten Dissidenten sind noch dort und manche von ihnen zeigen ihren Ungehorsam und ihre Ablehnung des Regimes – auf ganz unterschiedliche Weise. Zum Beispiel haben Soldaten-Mütter vor kurzem einen Flashmob organisiert, bei dem sie auf den Straßen Spielzeuge ihrer Kinder hinterließen. Auf den Kuscheltieren und Puppen standen Dinge wie: „Wie unterstützen diesen Krieg nicht“ oder „Stoppt den Krieg!“ Schon für solche Dinge braucht es viel Mut und Entschlossenheit. Man kann sich in einem demokratischen Land nicht vorstellen, wie wichtig solche kleinen Zeichen und Aktionen sind.

Wie wird heute in Belarus gegen Lukaschenko protestiert?

Es gibt Partisanen und andere kleinere Gruppen, die unter anderem das Schienennetz blockiert haben oder Informationen an das ukrainische Militär durchgeben, um den russischen Truppen einen Angriff auf die Ukraine vom belarussischen Territorium zu erschweren. Und die sozialen Medien spielen natürlich eine große Rolle. Sie bieten die einzige Möglichkeit, sich über den Krieg in der Ukraine zu informieren, denn das Staatsfernsehen erzählt das russische Narrativ der sogenannten Denazifizierung nach. Aber auch das ist gefährlich, vor allem wenn man selbst Inhalte teilt und kommentiert. Ich habe gerade mitbekommen, dass eine 21-jährige Frau zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie sich in einem Kommentar auf Instagram für Frieden in der Ukraine ausgesprochen hat.

Welche Rolle spielen Belarussen in der Ukraine?

Die regimetreuen Belarussen nutzen den Krieg auf doppelte Weise. Einerseits stellen sie sich an die Seite Russlands und befürworten, Putin zu unterstützen und belarussisches Territorium als Angelpunkt für russische Kampfflugzeuge zur Verfügung zu stellen. Andererseits sagen sie: „Guckt euch an, was in der Ukraine geschieht, davor kann uns nur Lukaschenko bewahren.“ Jedoch sind 86 Prozent der Belarussen gegen die Teilnahme eigener Streitkräfte in Russlands Krieg. Im Gegenteil: Belarussen stellen das größte Internationale Bataillon in der Ukraine, viele wollen an der Seite der Ukrainer kämpfen. Das Schicksal der Ukraine und das Schicksal eines freien Belarus sind eng miteinander verknüpft.

Wie schauen Sie auf den Fall Alexej Nawalny? Er hatte sich entschieden, nach Russland zu gehen und in Kauf genommen, für viele Jahre im Gefängnis zu landen. Spielen Sie manchmal auch mit dem Gedankengang, nach Belarus zurückzukehren?

Das war Nawalnys politische Entscheidung. Ich bin mir sicher, dass er wusste, was passieren würde. Aber ihm war dieses Zeichen wichtig, er wollte nicht im Exil bleiben. Ja, es gab diese Diskussion, ob auch ich hätte ähnlich handeln müssen. Aber ich weiß: Wenn ich zurückkehre, erwarten mich viele Jahre Gefängnis, Folter und Demütigung. Mein Mann sitzt bereits als politischer Gefangener in Haft, er wurde zu 18 Jahren verurteilt. Meine Kinder würden wie Waisen aufwachsen. Bei der Entscheidung, ins Exil zu gehen, hat auch die Mutter in mir eine große Rolle gespielt – aber ich wollte auch nicht einfach aufgeben. Denn im Gefängnis hätte ich meinem Land nicht mehr helfen können. Ich will lieber von hier aus alles tun, was ich kann.

Tichanowskaja im Gespräch mit der Berliner Zeitung.
Tichanowskaja im Gespräch mit der Berliner Zeitung.Benjamin Pritzkuleit

Man braucht viel Mut und Durchhaltevermögen, um den Weg zu gehen, den Sie und Ihr Mann gegangen sind. Haben Sie eigentlich Vorbilder, die Ihnen Kraft geben und Ihnen halfen, nicht aufzugeben?

Ja. Václav Havel ist für mich so ein Vorbild und eine Inspiration. Während der Herrschaft der kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei war er einer der führenden Regimekritiker. Später wurde er selbst Präsident. Er war aber auch ein großartiger Autor, ein Essayist. Havel glaubte an die Macht der Machtlosen und dass man auch mit kleinen Protestaktionen viel erreichen kann. Er war ein echter Menschenfreund. Diese Kombination von Eigenschaften bewundere ich.

Sie sprechen heute in Plötzensee zum Gedenktag des deutschen Widerstandes. Sind auch unter den Widerständlern gegen die NS-Diktatur Leute, die Sie inspirieren?

Natürlich bin ich beeindruckt von dem Versuch Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer, Hitler zu töten. Aber auch all die Menschen, die jüdische Familien versteckt haben, die sich zumindest im Stillen geweigert haben, zu Mittätern zu werden und den Verfolgten halfen, sind für mich bewundernswert. An diese kleinen und großen Zeichen der Menschlichkeit wird heute zu Recht gedacht.

Wie bewerten Sie die außenpolitische Arbeit der deutschen Regierung in Hinblick auf Belarus? Hat sich unter der Ampel-Regierung etwas geändert?

Deutschland war in den letzten Jahren bezüglich Belarus sehr aktiv. Man versuchte, die belarussische Zivilgesellschaft zu unterstützen, so gut es eben ging. Ich empfinde die Außenpolitik zumindest bisher als sehr konsistent. Aber jetzt fürchte ich, dass Belarus angesichts des Krieges in der Ukraine übersehen werden könnte. Ich bitte Deutschland daher inständig, die Hoffnung und den Glauben an die Belarussen nicht aufzugeben und weiter unsere Stimme im Europäischen Parlament zu sein.

Glauben Sie daran, dass die belarussische Bevölkerung es schaffen kann, trotz aller Repressionen erneut zu großen Protesten aufzustehen? Was gibt den Menschen die nötige Kraft zum Widerstand? Ist es Mut oder doch vor allem Wut?

Zur ersten Frage: Der Moment wird kommen, davon bin ich überzeugt und warte darauf. Und was Mut oder Wut anbetrifft: Ich glaube schon, dass Wut eine wichtige Quelle sein kann, um die Kraft zum Widerstand zu schöpfen. Wut auf den Krieg in der Ukraine zum Beispiel oder Wut auf das Lukaschenko-Regime, das Dissidenten für viele Jahre in Gefängnis-Zellen steckt. Auch Mitgefühl kann ein mächtiger Auslöser für Protest sein. Aber Wut und Mitgefühl sind Emotionen, die man hegt. Es braucht Mut, um auch nach ihnen zu handeln und sich aufzulehnen, wenn auch nur mit kleinen Aktionen. Sie können die Stimmung in einem ganzen Land kippen lassen. Die Verschwörer um Stauffenberg haben es damals gewagt, zu versuchen, die NS-Diktatur zu stürzen. Und auch die Menschen in Belarus werden eines Tages so weit sein. Dann und bis dahin werden sie unsere Unterstützung brauchen.

Zur Person: Swetlana Tichanowskaja wurde 1982 in Mikaschewitschy, im Süden von Belarus geboren. Sie studierte Pädagogik mit den Schwerpunkten Englisch und Deutsch und arbeitete als Übersetzerin. Nachdem die Wahlkommission ihrem Ehemann, Sergej Tichanowski, im Mai 2020 die Präsidentschaftskandidatur verwehrte, übernahm sie seinen Wahlkampf. Es kam im Zuge dessen zu den größten Protesten in der Geschichte von Belarus. Wenige Tage nach den Wahlen ging sie ins Exil. Ihr Ehemann wurde im Dezember 2021 zu 18 Jahren Haft verurteilt.

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