Kaja Kallas: Wie geht es weiter mit der russischen Minderheit in Estland?

Viele ethnische Russen haben die Wahlen in Estland offenbar boykottiert. Die Wahlsiegerin muss in Zeiten des Krieges einen besonderen Balanceakt vollführen. 

Kaja Kallas am Abend nach der Wahl in Tallinn. 
Kaja Kallas am Abend nach der Wahl in Tallinn. Foto: Sergei Grits/AP/dpa

Wenige Tage vor der Wahl in Estland erhielt die Spitzenkandidatin Kaja Kallas prominente Unterstützung aus Brüssel: Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen feierten gemeinsam mit Kallas in Tallinn den Unabhängigkeitstag der vormaligen Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Das Land hatte seine Unabhängigkeit erstmals 1918 nach der Oktoberrevolution und dem Zerfall des Russischen Reiches erlangt. Stoltenberg lobte die Regierung der Tochter eines früheren EU-Kommissars, weil unter ihrer Führung Estland pro Kopf die höchste Militärhilfe für die Ukraine bereitstellt.

Kaja Kallas’ Reformpartei ging schließlich am Sonntag als Sieger hervor: Sie legte drei Mandate zu und errang 37 von 101 Sitzen im Parlament von Tallinn. Die Juristin Kallas muss nun eine Koalition formen. Erstmals zweitstärkste Kraft wurde die extrem rechte EKRE vor dem linken Zentrum. Neu im Parlament ist die liberale Partei Eesti 200. Sie könnte sogar in die Regierung einziehen.

Ein Problem für die estnische Demokratie ist die Frage, wie die ethnischen Russen an der politischen Willensbildung beteiligt werden. Von den 1,3 Millionen Esten sind etwa 315.000 Angehörige der russischen Volksgruppe. Im Vorfeld hatten laut Umfragen etwa 35 Prozent der Russen gesagt, sie wüssten nicht, ob sie an der Wahl teilnehmen werden. Trotz der sehr weit entwickelten elektronischen Wahlmöglichkeiten, des E-Votings, lag die Wahlbeteiligung nach vorläufigen Angaben der Wahlkommission bei nur 63,7 Prozent. Dies deutet darauf hin, dass viele Russen der Wahl ferngeblieben sind. Laut der französischen Nachrichtenagentur AFP ist die linke Zentrumspartei die beliebteste Partei bei den Russen – sie war vom Boykott der Russen am stärksten betroffen und verlor deutlich. Die Zentrumspartei setzt sich für die Möglichkeit für Russen ein, die zweisprachige Ausbildung in Estnisch und Russisch fortzuführen. Die extreme Rechte findet bei den Russen keinen Anklang: Nur etwa elf Prozent der Russen unterstützen die EKRE. Die Mehrzahl der estnischen Russen sei gegen den Krieg in der Ukraine, so die AFP.

Wegen der angespannten Lage mit Russland muss die 45-jährige Kallas einen Balanceakt vollführen: Sie muss die Minderheitenrechte der Russen im Blick behalten und zugleich eine scharfe Polarisierung verhindern. Noch im Jahr 2022 hatten die Vereinten Nationen gefordert, Estland müsse auch russischen Esten, die nicht über ein erforderliches Mindesteinkommen verfügen, die Staatsbürgerschaft gewähren. Es gibt in Estland etwa 65.000 sogenannte graue Bürger mit eingeschränkten Bürgerrechten. Die UN raten außerdem dazu, ein Gesetz abzuschaffen, wonach Arbeitnehmer mit Strafzahlungen belegt werden können, wenn sie nicht fließend Estnisch sprechen.