Kanzlerin: Merkels unbekannte Seite
Berlin - Wer ist eigentlich Angela Merkel? Eine banale, eine dumme Frage? Schließlich ist sie bald seit acht Jahren Kanzlerin, seit 2000 führt sie die CDU, seit über zwanzig Jahren spielt sie bedeutende Rollen in der Bundespolitik. Sie ist populär und pausenlos in der Öffentlichkeit unterwegs. Und doch: Wer wollte von sich behaupten, diese Frau wirklich zu kennen, die ihr Privatleben weitgehend abschottet und über viele Jahre versucht hat, zwei wesentliche Aspekte ihrer Persönlichkeit auszublenden: ihre Herkunft aus der DDR und ihr Geschlecht. Sie machte sich zu einer Art Neutrum im Hosenanzug, allein definiert durch ihr politisches Dasein.
Das hat sich ein wenig geändert. Ein Wahlkampf zieht herauf, und nun gilt es, die menschliche Seite der Kanzlerin zu präsentieren. Wir registrieren all diese Auftritte – Talkshow bei der Brigitte, Frauentreffen im Kanzleramt, lockere Diskussionen mit Schülern – immer noch überrascht, weil sie so untypisch sind für die normale Angela Merkel.
Doch für die Wahlkämpferin gilt das nicht. Ein Blick ins Archiv zeigt: Vor vier Jahren lud die Kanzlerin Frauenzeitschriften wie Brigitte und Cosmopolitan zum Interview. Man konnte eine weichere, fraulichere Angela Merkel erleben. Bei einem Besuch an der österreichisch-ungarischen Grenze trat plötzlich auch die DDR-Bürgerin Angela Merkel in Erscheinung, die sich ganz vertraut mit einstigen Landsleuten austauschte, die 1989 hier den Weg in die Freiheit fanden.
Ungewohnt melancholisch
Nach erfolgreicher Wahl ist diese Angela Merkel dann verschwunden. Nun ist sie wieder da. Denn nun ist wieder Wahlkampf. Zuletzt zu besichtigen am Sonntagabend im Kino Filmkunst 66 in Berlin-Charlottenburg.
„Erstmal bin ich noch ganz benommen“, sagt Angela Merkel ungewohnt melancholisch. „Und da muss man schon wieder vernünftig reden.“ Gerade ist „Die Legende von Paul und Paula“ zu Ende gegangen, ein Defa-Film von 1973, in dem die Heldin stirbt und ihren schönen, starken Geliebten mit drei Kindern allein zurücklässt. Angela Merkel hat sich dieses zärtliche, hin und wieder auch ruppige Herz-, Schmerz- und Hoffnungsstück bei der Deutschen Filmakademie bestellt, in einer Reihe, die „Mein Film“ heißt und in der „herausragende Vertreter des geistigen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebens unserer Republik“ einen Kinofilm präsentieren, der in ihrem Denken eine entscheidende Rolle spielt. So jedenfalls heißt es auf der Webseite der Akademie.
Es wird ein launiger Frühlingsabend, reich an Anekdoten. Und fast frei von jenem Rechtfertigungsdruck, dem sich Angela Merkel, ihre DDR-Vergangenheit betreffend, derzeit immer mal wieder ausgesetzt sieht. Fast frei.
Die Kanzlerin dankt den Hauptdarstellern Angelica Domröse und Winfried Glatzeder, die mit ihr ins Filmkunst 66 gekommen sind, sie betont gleich mehrfach, der von Ulrich Plenzdorf geschriebene und von Heiner Carow inszenierte Film sei „unheimlich gut gespielt“. Besonders habe ihr das Abwandern ins Surreale gefallen, die „Verbindung des Lebens und Träumens in schönen, ganz nahen Bildern“. Man sei da wunderbar entrückt, sagt Angela Merkel, und wer wollte, konnte in ihren Augen eine gewisse Sehnsucht entdecken.
Beatles und Biermann
Dann plaudert Angela Merkel aus jener Zeit, in der sie, gemeinsam mit drei Millionen ostdeutschen Zuschauern, den Film zum ersten Mal gesehen hat. Über die Hoffnungen der frühen Honecker-Jahre auf eine vorsichtige Liberalisierung, und wie sie schnell zu Grabe getragen wurden. Über die langen Haare und die noch längeren Westen ihrer Templiner Mitschüler. Über die erste Beatles-Platte, die sie in Moskau kaufte. Das Tonband, mit dem sie auch mal Biermann-Songs aufnahm. Über die Zustände in den Kaufhallen. Und die unsanierte Altbauwohnung in Berlin. Später erzählt die Kanzlerin, sie sei in der Diskothek zeitweise Bardame gewesen: „Aber das habe ich schon preisgegeben, das ist keine Neuigkeit.“ Im Laden an der Ecke wurde Kirschsaft gekauft und mit Wodka gemixt: „Ich wusste, wie man das Glas hält, um den Abend zu überstehen.“
Manchmal versucht der Regisseur Andreas Dresen, der als Moderator eine unverhofft leichte Aufgabe hat, ein wenig mehr in die Tiefe zu gehen, ins Philosophische, Gesellschaftsanalytische. Ostdeutsche Biografien, bedauert er, würden auch 23 Jahre nach der Einheit oft noch so gedeutet, dass sie in das westdeutsche Feindbild passen: „Die öffentliche Wahrnehmung der DDR-Vergangenheit finde ich, ehrlich gesagt, ein bisschen traurig.“
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Klar, erwidert die Kanzlerin, zwar war man in der DDR in der Hand von irgendwelchen Mächten, die darüber entschieden, wie’s weitergeht. Aber das sei doch nicht alles gewesen, man dürfe die vielen Facetten nicht vergessen: „In der Summe bin ich nie zu dem Schluss gekommen, mein Leben wäre umsonst, ich sei nur eingesperrt.“ Auch Filme wie „Paul und Paula“ seien eine gute Sache, um die Vielfalt des gelebten Lebens wahrzunehmen zu können. Alles in allem: „Ärmer ist die alte Bundesrepublik durch uns aus dem Osten nicht geworden.“
Schon im Vorfeld des Filmabends war darüber spekuliert worden, warum Angela Merkel ausgerechnet „Die Legende von Paul und Paula“ als ihren Lieblingsfilm benannt hätte. Vielleicht sei das vor allem der Figur Pauls geschuldet, der als persönlicher Referent in einem DDR-Ministerium arbeitet und sich vom angepassten Kompromissler zum Vertreter einer utopischen Gemeinschaftsidee entwickelt. Zum leidenschaftlichen Gefühlsmenschen, der sogar zur Axt greift, um eine Tür einzuschlagen: „Paula, ich komme!“ Andreas Dresen will wissen, ob Angela Merkel einen Typen wie ihn auch im Kanzleramt einstellen würde. Kurzes Schweigen. Dann: „Ich denke schon.“ Und die Begründung: „Mit der Art des Lebensstils, die bei Paul gesiegt hat, würde ich ihn beschäftigen. So, wie er war, als er noch Karriere machen wollte, hätte ich ihn nicht gewollt.“ Spricht’s, lächelt – und ist ganz mit sich im Reinen.
Der Zufall will es, dass parallel zu ihrem Besuch bei Paul und Paula ein Buch über ihre Zeit in der DDR herausgekommen ist. Es heißt „Das erste Leben der Angela M.“, und die Autoren nehmen für sich in Anspruch, bisher unbekannte Details über die junge Merkel herausgefunden zu haben. Sie sollen auf eine größere Nähe zum SED-Staat schließen lassen als bisher bekannt, ist die verkaufsfördernde Behauptung, und der Co-Autor Ralf Georg Reuth nennt Merkel gar eine Reformkommunistin. Doch die Werbung ist eine dreiste Sensationshascherei. Der weit überwiegende Teil dessen, was die Schreiber über das frühe Leben der Angela Merkel aufgeschrieben haben, ist lange bekannt. Denn die Journalistin Evelyn Roll hat sich schon vor mehr als zehn Jahren auf Merkels Spuren begeben und in ihrem erstmals 2001 erschienenen Buch „Das Mädchen und die Macht“ ausführlich über das sogenannte erste Leben der Angela M. berichtet. Auch nach Gesprächen mit frühen Wegbegleitern der Pfarrerstochter, die sich womöglich damals besser an die gemeinsame Zeit erinnerten als heute.
Der rote Kasner
So weiß man seit Langem, dass ihr Vater Horst Kasner der rote Kasner genannt wurde, weil er zwar Pfarrer, aber eben auch ein Linker war, der gleichwohl mit dem SED-Staat nicht viel im Sinn hatte. Der aber nach Wegen für eine Kirche im Sozialismus suchte und nach Wegen für seine Familie, in diesem System klarzukommen – ohne zu buckeln, aber auch ohne allzu sehr aufzumucken. Damals erzählte Merkel Evelyn Roll: „Meine Eltern haben uns die Entscheidung, ob wir Pionier werden oder in die FDJ gehen, selbst überlassen. Sie haben gesagt, jeder Mensch muss in die Schule gehen, aber nicht jeder Mensch muss Pionier werden.“ In der zweiten Klasse ist Angela Merkel dann Pionierin geworden und später auch ein aktives FDJ-Mitglied. Roll interpretiert diesen Weg als Schutzprogramm für die Kasner-Tochter: „Kein Leben im Widerstand, höchstens im Abstand zur DDR. Und, was eines Tages noch einmal sehr wichtig werden könnte: Sie hat auch nie etwas anderes behauptet.“
Ein weitsichtiger Satz, im Jahre 2001 geschrieben. Der Sonntagabend im Filmkunst 66 ist so ein Tag. Denn hier konfrontiert sie ein Bild-Reporter mit der alten Behauptung, sie sei in ihrer Zeit an der Akademie der Wissenschaften in der FDJ-Leitung für Agitation und Propaganda zuständig gewesen. Sie spricht dagegen lieber von ihrer Aufgabe als Kulturbeauftragte, sie habe Theaterkarten besorgt und Lesungen organisiert. Zeitzeugen wissen es besser, auch jene, die nun Reuth und sein Co-Autor Günter Lachmann zitieren, wortwörtlich aus Evelyn Rolls Buch übernommen. Da war schon die Rede davon, dass Merkel als Propaganda-Sekretärin für das sogenannte Studienjahr verantwortlich war, eine monatliche Zwangsveranstaltung der FDJ zur politischen Weiterbildung. Und dass sie das zur kritischen Auseinandersetzung mit Entwicklungen in der DDR genutzt hat, zum Ärger der Parteileitung und zum Missfallen der Stasi, wie sich aus Spitzelberichten über sie ergibt.
Aber was sagt nun Angela Merkel zu dem neuen, alten Vorhalt? „Ich kann mich da nur auf meine Erinnerung stützen. (...) Wenn sich jetzt etwas anderes ergibt, kann man damit auch leben.“ Und: „Was mir wichtig ist – ich habe da nie irgendetwas verheimlicht.“ Aber vielleicht bewusst eine Unschärfe gelassen.
Die Lust an der Koketterie
Evelyn Roll hatte genau das vorausgesehen. „Man könnte sich durchaus vorstellen“, schrieb sie 2001, „dass eines fernen Tages, vielleicht ganz kurz vor einer wichtigen Wahl, ehrgeizige Schwarz-Weiß-Journalisten von interessierten Kreisen mit Material versorgt werden. Dann werden sie ‚aufdecken‘, dass Angela Merkel als Schülerin das blaue Hemd einer Organisation getragen hat, die in der Bundesrepublik als verfassungsfeindlich erklärt war, und dass sie Sekretärin für Agitation und Propaganda an der Akademie der Wissenschaften gewesen ist. Vielleicht ist dann gerade eine Generation herangewachsen, die überhaupt keine eigene Anschauung mehr vom Alltag in der DDR hat.“ Tja.
Wer also ist nun Angela Merkel? Allein sechs neue Bücher sind über sie im Wahljahr erschienen, sechs Versuche, diese Frage zu beantworten. Es sind allenfalls Annäherungen und vor allem Belege für die ungeheure Popularität dieser Frau. Sie bedient dieses Interesse an ihr, gerade jetzt im Wahlkampf. Deshalb zeigt sie nun wieder ein wenig mehr von sich. Und dass in den Osterferien Bilder vom Familienurlaub in Italien erschienen sind, die eine ihren Enkeln zugewandte Oma Merkel zeigen, war vielleicht nicht geplant. Aber doch hilfreich beim Bemühen, das Neutrum im Hosenanzug mit neuen menschlichen Zügen zu zeigen.
Offenherzig in Oslo
Angela Merkel hat über die Jahre viel Selbstsicherheit gewonnen, auch die Lust und die Fähigkeit, mit ihren sonst fast verleugneten Eigenschaften als Frau und als Ostdeutsche zu kokettieren. Legendär ist ihr Auftritt mit einem offenherzigen Dekolleté in der Oper von Oslo 2008. Und trickreich ist die Wahl von Paul und Paula als Lieblingsfilm, denn er weckt die Erinnerungen von Millionen ehemaligen DDR-Bürgern an eine gemeinsam mit dieser Kanzlerin verlebte Jugend, die sie durchaus gegen das westdeutsche Feindbilddenken verteidigt. Das könnte jetzt wieder einmal nützlich sein. Und das hätte mit der Hollywood-Romanze „Jenseits von Afrika“ nicht funktioniert. Die nannte Merkel vor nicht einmal einem Jahr ihren Lieblingsfilm.