Erdbeben in Syrien: „Es ist ein absolut beängstigendes Chaos“
Die Initiative Adopt a Revolution unterstützt nach den Beben die Menschen in der syrischen Provinz Idlib. Ein Partner vor Ort berichtet von der schlimmen Lage.

Den Syrer Hayyan al-Faisal packte in den frühen Morgenstunden des 6. Februar das Grauen, als der Boden unter seinen Füßen zu schwanken begann. Es hat ihn seitdem nicht losgelassen. Er habe den Krieg überlebt, sei vertrieben worden, Luftangriffe gehörten zu seinem Alltag, erzählt er. „Alles, was ich vorher erlebt habe, war im Vergleich dazu keine richtige Angst“, sagt er.
Wie soll er sich nun verhalten? Sein Haus ist beschädigt. Aber es steht noch. Ständig wackelt die Erde bei Nachbeben. Sie will nicht zur Ruhe kommen. Es ist bitterkalt in Idlib. Aber al-Faisal traut sich nicht zurück unter sein Dach. Es könnte vielleicht beim nächsten Schlag über ihm und seiner Familie zusammenbrechen, fürchtet er. „Ich weiß nicht, wie man sich in einem solchen Fall verhält“, sagt er.
Die Menschen in Idlib sind wie Hayyan al-Faisal Gefahr gewohnt. Sie kommt in der Regel vom Himmel. Raketen oder Bomben explodieren mit Regelmäßigkeit in den Städten und Dörfern der Provinz. Idlib ist die letzte Region Syriens, die noch von den Gegnern des Machthabers Bashar al-Assad gehalten wird. Assad brachte nach dem Eingreifen Russlands 2015 in den seit 2011 tobenden Syrien-Krieg fast das ganze Land wieder unter seine Kontrolle.
Die islamistische HTS-Miliz hat sich unter den Rebellengruppen in Idlib durchgesetzt. Sie kontrolliert das Gebiet unter den Augen der türkischen Armee. Türkische Truppen sind im Norden der Provinz präsent. Sie garantieren, dass die Armee des Assad-Regimes nicht weiter vorrücken kann.
90 Prozent der Einwohner leben von internationaler Hilfe
Die Lebensverhältnisse in Idlib sind elend. 2,8 Millionen Binnenvertriebene aus anderen Teilen Syriens wohnen in Zelten oder Holzverschlägen. Ihr Unglück rettete ihnen nun das Leben. Apartmentblocks aus Beton verwandelten sich für die Bewohner bei den Erdbeben in Todesfallen.
90 Prozent der 4,5 Millionen Einwohner Idlibs kamen schon vor dem Erdbeben nur dank humanitärer Hilfe über die Runden. Die Cholera grassiert ungebremst in den Flüchtlingslagern.
Hayyan al-Faisal ist der Leiter des zivilgesellschaftlichen Zentrums Hooz in den Städten Azaz und Al-Bab zwischen der türkisch-syrischen Grenze und der Handelsmetropole Aleppo. Er arbeitet mit der Menschenrechtsorganisation Adopt a Revolution mit Sitz in Berlin zusammen. Sie unterstützt 15 Organisationen in Nordwestsyrien. Die Initiative versucht seit dem ersten Tag der Katastrophe herauszufinden, wie es den Partnern vor Ort geht. Die Sprecherin Svenja Borgschulte berichtet: Alle seien am Leben. „Aber viele haben Angehörige verloren. Oder Verwandte sind unter den Trümmern begraben.“

Die Erdbeben haben Idlib in der Fläche verwüstet. Hayyan al-Faisal berichtet, dass viele Straßen verschüttet seien. Die Menschen irrten zwischen dem Schutt umher und versuchten, sich in den Trümmern einzurichten. „Sie haben Angst, in die Häuser zurückzugehen. Und es ist bis zu minus sechs Grad kalt“, sagt er. Gerüchte machten die Runde, dass ein weiteres Erdbeben drohe. „Es ist ein absolut beängstigendes Chaos.“
Mehrere Lastwagen haben am 9. Februar im Auftrag der UN erstmals seit den Beben den Grenzübergang Bab-al-Hawa nach Syrien passiert und Güter geliefert. Es handelte sich um einen Transport, der ohnehin für Idlib vorgesehen war. Die Lieferung enthielt Decken und Hygieneartikel für 5000 Menschen, aber keine dringend benötigten Maschinen, um Menschen zu bergen. Laut Angaben der Türkei haben die Erdstöße die Straße zum Grenzübergang Bab-el-Hawa auf türkischer Seite beschädigt. Deshalb sei der internationale Hilfskonvoi tagelang nicht durchgekommen.
Hayyan al-Faisal hat kaum noch Hoffnung, dass Helfer in Idlib Verschüttete lebend bergen. Der Zivilschutz habe bereits verkündet, dass wohl nur noch Tote unter den Trümmern lägen. Die Retter verfügten weder über genügend noch über die richtigen Gerätschaften, um die Menschen aus dem Schutt zu bergen, sagt er. Sie stünden verzweifelt auf den Schuttbergen herum und arbeiten mit Spitze und Hacke oder gruben mit bloßen Händen nach Überlebenden.
Die syrischen Zivilschützer werden auch Weißhelme genannt. Sie bergen seit 2013 in den von Assad-Gegnern kontrollierten Gebieten Verschüttete nach Luftangriffen. Sie gelten als professionell und trotz mangelnder Ausrüstung hochmotiviert.
Weißhelme können in Idlib wenig ausrichten
Die beiden Erdbeben haben Tausende Menschen auf einen Schlag unter Beton und Stahl begraben. Darauf hätten sich die Weißhelme mit ihren geringen Mitteln gar nicht vorbereiten können, meint al-Faisal. Die Gebäude in Idlib werden seit Jahren bei Beschuss von Detonationen erschüttert. Selbst wenn sie nach außen heil wirken, ist die Bausubstanz oft von Mikrorissen durchzogen.
Binnenvertriebene haben in der Not auch in beschädigten Gebäuden Quartier bezogen. Sie zogen das Leben in Ruinen dem Hausen in Zelten vor. An Bauvorschriften bei Neubauten hielt sich in Zeiten des Krieges ohnehin niemand. Die Sehnsucht nach einem Dach über dem Kopf war angesichts von Millionen Vertriebenen in Idlib groß. Oft fehlte in dem isolierten Gebiet auch Material, um solide zu bauen.
Verzweiflung in Idlib: Wo bleibt die Hilfe von außen?
„Heute ist Tag vier nach der Katastrophe. Viele, die nach dem Erdbeben unter dem Schutt noch am Leben waren, sind jetzt tot“, sagt er. All diese Menschen hätten gerettet werden können, wenn Hilfe von außen rechtzeitig Idlib erreicht hätte, fügt er hinzu. „Das Schlimmste in der ganzen Katastrophe ist für mich, dass die internationale Gemeinschaft keine Hilfskräfte oder Maschinen zur Bergung nach Idlib geschickt hat“, sagt der Aktivist.
Zivilgesellschaftliche Gruppen wie das Zentrum Hooz versuchen nun mit ihren begrenzten Mitteln, zumindest Essen und Trinken zu verteilen. „Wir kaufen die Sachen, die wir verteilen, bei Händlern ein. Sie räumen alles aus ihren Lagern. Wir merken aber jeden Tag, dass es weniger gibt“, sagt er.
Menschen, die aus den Trümmern geborgen werden, könnten in Idlib nicht mehr angemessen versorgt werden. „Das Assad-Regime und Russland haben die medizinische Infrastruktur in der Region und vor allem in Idlib jahrelang gezielt angegriffen und zerstört. Nur noch wenige medizinische Einrichtungen sind überhaupt intakt.“ Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International beschuldigen Russland schon seit Jahren, in Syrien mit der Zerstörung medizinischer Infrastruktur Kriegsverbrechen zu begehen.
Die Verletzten können in Idlib nicht versorgt werden
„Wir brauchen sofort medizinische, humanitäre und technische Nothilfe in Idlib“, sagt Svenja Borgschulte von Adopt a Revolution. Sie plädiert außerdem für eine Luftbrücke, die Verwundete in Drittstaaten bringt. Ansprechpartner für die internationale Hilfe könnten vor Ort die Weißhelme sein.
Adopt a Revolution fordert außerdem, weitere Grenzübergänge zur Türkei sofort für die Hilfe zu öffnen. Dafür setzt sich neben der Bundesregierung auch der UN-Generalsekretär António Guterres ein. Die UN darf nur Bab al-Hawa für Lieferungen nach Idlib nutzen. „Russland und China haben mit ihrem Veto im UN-Sicherheitsrat immer wieder verhindert, dass andere Grenzposten für Hilfstransporte genutzt werden können“, sagt Borgschulte. Formal liegt die Entscheidung beim syrischen Staat, auch wenn seine Armee die Grenzregion nicht kontrolliert.
Türkei soll angeblich mit Russland verhandeln
Der Grenzübergang Bab al-Hawa bildet derzeit das Nadelöhr für Güter, die Hilfsbedürftige vor dem Erfrieren oder Verhungern bewahren sollen. „Es ist skandalös, dass keine weiteren Grenzübergänge geöffnet wurden, um die Menschen hier zu retten und zu versorgen“, sagt Hayyan al-Faisal.
Laut Medienberichten verhandelt die Türkei nun mit Syriens Schutzmacht Russland über eine Öffnung weiterer Grenzübergänge. Statt Hilfskonvois rollen derzeit Laster mit einer anderen Fracht in Bab al-Hawa von der Türkei nach Syrien. Sie transportierten Hunderte Leichen von syrischen Flüchtlingen, die in der Türkei durch das Erdbeben ums Leben gekommen sind. Sie sollen in ihrer Heimat ihre letzte Ruhe finden. Die Toten von Idlib werden wohl noch lange unter dem Schutt ihrer Häuser begraben bleiben.