Keine Angst vor Wladimir Putin: Wer die Ukraine stärkt, stärkt den Westen
Hand aufs Herz: Putin will keinen Frieden. Warum also auf diplomatische Lösungen hoffen? Wer der Ukraine Waffen liefert, stärkt die westliche Verhandlungsposition. Ein Kommentar.

Kaum eine Woche vergeht ohne Drohgebärden und Schimpfkanonaden des ehemaligen Präsidenten, langjährigen Premierministers Russlands und vormaligen russischen Vorzeigeliberalen Dmitri Medwedew. So kündigte Medwedew am Morgen des 15. Juni 2022 in seinem Telegram-Kanal an, die Ukraine brauche die kürzlich abgeschlossenen LNG-Lieferverträge mit „ihren transatlantischen Herren“ nicht, da das Land womöglich in den kommenden zwei Jahren von der Weltkarte getilgt sein werde.
Doch auch andere Vertreter des politischen Establishments Russlands scheuen nicht vor wutentbrannten Äußerungen der Ukraine gegenüber. Jüngst bezeichnete Dmitri Rogosin, Leiter der russischen Raumfahrtorganisation Roskosmos, von 2011 bis 2018 stellvertretender Regierungschef und zwischen 2008 und 2011 ständiger Vertreter der Russischen Föderation bei der Nato, in seinem Twitter-Account die gegenwärtige Ukraine als eine „existenzielle Bedrohung für das russische Volk, russische Geschichte, russische Sprache und russische Zivilisation“ und ruft unverhüllt zur Ausrottung der ukrainischen Nation und Kultur auf.
Nur zu offensichtlich soll dabei der Begriff der existenziellen Bedrohung die Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes andeuten. Auch Russlands Staatschef Wladimir Putin lässt keine Gelegenheit aus, die Souveränität und die daraus erwachsende Handlungsfreiheit Russlands zu betonen und der Ukraine jedwede Existenzberechtigung zu verweigern.
So dozierte Putin im Vorfeld des Sankt Petersburger Internationalen Wirtschaftsforums über die Notwendigkeit der Heimholung russischer Gebiete dem Vorbild Peter des Großen folgend in und jenseits der Ukraine. Die Aufzählung ungeheuerlicher Drohungen gegenüber der Ukraine, gegen einzelne westliche Staaten sowie den Westen in seiner Gesamtheit durch hohe russische Politik und Beamtenschaft ließe sich auf Wunsch noch sehr lange fortsetzen.
Blind-selbstreflexive Debatten
Vor dem Hintergrund derart brutal-ehrlicher Drohgebärden durch führende Vertreter russischer Machtführung und in Anbetracht unzähliger Kriegsverbrechen russischer Streitkräfte, welche den Ernst der Drohungen seit 112 Tagen erschreckend eindrucksvoll unterstreichen, versetzen einen die selbstreflexiven innerdeutschen Waffenlieferungs- und Kriegsdebatten sowie die zunehmend lauter werdenden Forderungen nach Akzeptanz russischer Interessen in der Ukraine in eisiges Staunen.
Einer der prominenten Vertreter eines verständnisvollen Umgangs mit Russlands Forderungen war am 14. Juni 2022 in der Talksendung von Sandra Maischberger Johannes Varwick, Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Johannes Varwick warnte vor Waffenlieferungen, die seiner Ansicht nach „zu einer Verlängerung des Krieges“ beitrügen und keine Lösung böten, und mahnte zur Berücksichtigung russischer „vitaler Interessen in der Ukraine“ und der Suche nach einer „politischen Lösung, mit der auch Russland einverstanden sei“.
Freilich enthält dieser sich in Kleider der Friedenspolitik kunstvoll hüllende Erklärungsansatz ein sehr großes Körnchen Wahrheit. Denn selbstverständlich gibt es eine politisch-diplomatische Lösung, die Moskau nur zu gern akzeptieren würde. Diese besteht aus der Sicht der russischen Führung in einer bedingungslosen Kapitulation und der voraussetzungslosen Unterwerfung Kiews unter die Willkür Moskaus.
Insofern mag es einem kaum einleuchten, was Johannes Varwick mit der „schwersten Dilemmasituation“ und „keinem 100-prozentig Falsch oder 100-prozentig Richtig“ für Deutschland sowie den gesamten Westen genau meint. Aktuell könnte die Richtungsentscheidung weder für Deutschland noch für die westliche Gemeinschaft kaum einfacher sein.
Ein wohlklingender Trugschluss
Die – (nicht nur) von Johannes Varwick ausgesprochene – Warnung, wonach westliche – und nicht zuletzt deutsche – Waffenlieferungen an die Ukraine für den Kreml zwingend eine Grenzüberschreitung bedeuten müssen, die Konflikteskalation beschleunigen sowie letztlich auch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen provozieren könnten, sind ein wohlklingender Trugschluss.
Freilich ist allein die Überzeugung, wonach der Westen einen unmittelbaren, wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungsfindung Wladimir Putins nehmen kann, kindlich naiv und maßlos selbstüberhöhend zugleich – deswegen aber um keinen Deut weniger falsch.
Zwar kann sich der Westen über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen roten Linien in der Vorstellungswelt Wladimir Putins keinesfalls sicher sein, so gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in ein heuristisches Spiel aus Versuch und Irrtum, jedoch dürfte das eigentliche Problem dabei darin bestehen, dass es keine klaren roten Linien mehr gibt. Jede beliebige Handlung des Westens kann von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden.
Dennoch ist das Risiko des Abdriftens des Ukraine-Krieges in einen Dritten Weltkrieg samt Einsatz taktischer Nuklearwaffen aufgrund innenpolitischer Zwänge Russlands aktuell als gering zu werten.
Kremls Worte und erst recht Taten ernst nehmen
So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach baldigem Frieden auch sein mag, gilt es für die politischen und akademischen Kreise Deutschlands sowie auch der gesamten EU am 112. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, nach den Untaten von Mariupol, Butscha und unzähligen zerstörten Orten der Ukraine, die schlichte Wahrheit radikaler Erwartungen des Kremls ernst zu nehmen.
Zwar gibt es in Russland neben der Partei des Krieges (Befürworter einer durch noch brutaleres und rücksichtsloseres Vorgehen erzwungenen bedingungslosen Kapitulation Kiews) auch eine Partei des Friedens (Anhänger einer diplomatischen Lösung), diese ist jedoch zu heterogen, politisch und argumentativ zu einflussschwach und zu einer koordinierten Kommunikation gegenüber der beratungsresistenten Staatsspitze unfähig.
Der Westen wäre gut damit beraten, die politischen Entscheidungen auf der festen Grundlage tatsächlicher Handlungen und Äußerungen russischer Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik zu bauen. Nach über 100 Tagen fruchtloser Friedensbemühungen zwischen der Ukraine und Russland und zahlloser enttäuschter Hoffnungen kann mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgehalten werden, dass der russische Präsident von Anbeginn an keinerlei Interesse an einer ehrlichen diplomatischen Lösung hatte.
Mehr realpolitisches Denken wagen
Vielmehr dienten die Verhandlungsgespräche Russlands als ein diplomatisches Instrument zur Stärkung eigener Positionen gegenüber dem Westen, zur Unterstützung der Narrative und sowie zur Begleitung der breit angelegten Desinformationskampagne. Kein belastbares Indiz deutet auch nur ansatzweise darauf hin, dass Moskau von den politischen Minimalforderungen (Entmilitarisierung, Entnazifizierung, politische und militärische Neutralität der Ukraine, Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk im Rahmen der gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk) wesentlich abzurücken bereit ist. Auch das Maximalziel einer prorussischen Regierung in Kiew dürfte der russische Präsident ebenso wenig aufgegeben haben.
Angesichts der kategorischen Positionierung der zentralen Angehörigen russischer Führungszirkel erscheinen jedwede noch so ambitionierte und gut gemeinte Vermittlungs- und Beschwichtigungsversuche – wie beispielsweise die regelmäßigen und seit Invasionsbeginn bereits über 100 Stunden zählenden Telefonate zwischen Emanuel Macron und Wladimir Putin – vergebens zu sein.
Wie eine jenseits des unbedarften Wunschdenkens gangbare diplomatische Lösung tatsächlich aussehen könnte und welche Schritte von westlicher Seite dies zur Voraussetzung hätte, skizzierte der US-amerikanische Präsident Joe Biden in einem Gastbeitrag für die New York Times vom 31. Mai 2022. Darin legte Biden die Beweggründe für seine Entscheidung, moderne Mehrfachraketenwerfersysteme an die Ukraine zu liefern offen und präzisierte zugleich die Zielsetzungen der Vereinigten Staaten im Rahmen der militärischen, humanitären und finanziellen Unterstützung der Ukraine beim Kampf gegen die Invasion Russlands.
Der Weg Joe Bidens ist der richtige
Die Zielsetzung der USA sei weder eine Eskalation der Kriegshandlungen noch ein Regime-Change in Moskau, sondern eine demokratische, unabhängige, souveräne und wohlhabende Ukraine, die sich gegen weitere Aggressionen zu verteidigen vermöge. Unter Verweis auf die Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj weist Biden darauf hin, dass der Ukraine-Krieg letztlich nur auf diplomatischem Wege endgültig beendet werde.
Jedoch bilde jede Friedensverhandlung das Abbild der Fakten vor Ort wider, so der US-Präsident. Washington habe der Ukraine innerhalb kurzer Zeit eine „beträchtliche Menge an Waffen und Munition“ zukommen lassen, damit Kiew den Kampf fortsetzen und am Verhandlungstisch eine möglichst starke Position einnehmen könne.
Die Überlegungen des US-Präsidenten Joe Biden zeichnen den einzigen – realpolitisch – adäquaten und glaubwürdigen Weg hin zu einer belastbaren diplomatischen Lösung. Denn je länger und entschlossener sich die Ukraine mithilfe der – dringend benötigten – westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren vermag, desto schneller wird die Bedrohungswahrscheinlichkeit für weitere Eskalationen in und jenseits der Ukraine sinken und desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine und letztlich auch der Westen für den Frieden zahlen müssen.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de