Die Corona-Krise legt die Fehler der Merkel-Regierung offen

Veraltete Bürokratie, fehlende Digitalisierung, ein Hang zur Überregulierung – und der Bundeskanzlerin fehlt offenbar die Bereitschaft, all das zu ändern.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch im Bundestag.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch im Bundestag.dpa/Kay Nietfeld

Berlin-Wie sehr die Dinge in der Schieflage sind, zeigt sich an diesem denkwürdigen Mittwoch gleich zu Beginn der Bundestagssitzung. Ausgerechnet Wolfgang Schäuble, der erfahrene Bundestagspräsident und Parlamentarier seit vielen Jahrzehnten, gerät aus dem Konzept. Soeben hat er die Sitzung eröffnet. Und wie üblich muss erst einmal über die Tagesordnung abgestimmt werden, weil die AfD im Vorfeld nicht zugestimmt hat.

Dann gibt es noch ein paar Nachnominierungen für den Vermittlungsausschuss. Schäuble hat das schon zigmal gemacht. Doch diesmal verhaspelt er sich bei der Aufzählung der Namen und Funktionen. „Wann kommt denn die Regierungsbefragung?“, fragt er verwirrt. Eine Bundestagsbedienstete tritt an seine Seite und hilft ihm, die Unterlagen zu sortieren. Zwei Gesetzentwürfe ohne Aussprache müssen noch in die Ausschüsse überwiesen werden. Dann ist die Bundeskanzlerin an der Reihe.

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Dass Angela Merkel heute hier ist, um für die Regierung Rede und Antwort zu stehen, hat nichts mit den dramatischen Ereignissen zu tun, die – man muss es so formulieren – die Republik seit dem späten Vormittag in Atem halten. Der Termin war schon länger angesetzt. Doch nun ist alles der Dramatik untergeordnet, die Merkel selbst mit einer Erklärung in Gang gesetzt hat. Sie hat sie am Vormittag bereits den Ministerpräsidenten vorgetragen, die sie kurzfristig erneut in einer Videoschalte zusammengetrommelt hat. Nun verliest sie sie vor den Fraktionen des Bundestages erneut.

Es geht um die Ruhetage zu Ostern, die Merkel der Republik verordnen wollte. Nicht nur an den bisher geltenden Feiertagen, sondern zusätzlich auch am Gründonnerstag und am Karsamstag sollte das öffentliche Leben möglichst komplett heruntergefahren werden. Insgesamt fünf Tage lang, so der Plan, sollten möglichst alle zu Hause bleiben. Ein kleiner harter Lockdown. Daraus wird nun nichts.

Merkel: „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler“

„Ich habe heute Morgen entschieden, die notwendigen Verordnungen nicht auf den Weg zu bringen“, sagt Merkel. „Die Idee war mit bester Absicht entworfen worden. Doch sie ist in der Kürze der Zeit nicht umsetzbar, wenn überhaupt.“ Es habe sich gezeigt, dass Fragen wie Lohnfortzahlungen und Probleme bei Lieferketten nicht so schnell gelöst werden könnten. „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler“, sagt Merkel. „Am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung. Qua Amt ist das so.“ Sie bedauere die zusätzliche Verunsicherungen zutiefst, sagt sie „und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung“.

Merkel hasst Dramatik. Man darf daher davon ausgehen, dass sie die Vollbremsung, die sie hier vorgenommen hat, für alternativlos hält. „Alternativlos“, das ist eigentlich der Begriff, mit dem Merkel sonst gerne ihre Politik beschreibt, gerade jetzt in der Corona-Pandemie. Doch nach einem Jahr Dauerstress erlebt sie nun eine der größten Krisen ihrer Kanzlerschaft.

Merkel hat die Krise zum großen Teil selbst verschuldet

Sie hat diese tatsächlich zum großen Teil selbst verschuldet. Doch weniger, weil sie nach stundenlanger ergebnisloser Diskussion beim Bund-Länder-Gipfel am Montag einen Vorschlag präsentierte, der nicht umsetzbar ist. Merkels Fehler war es, sich auf die falschen Verbündeten einzulassen – und dabei die Partikularinteressen der Länder schlicht zu unterschätzen.

Die Ministerpräsidentenkonferenz ist eher ein informelles Gremium, in der Verfassung wird sie überhaupt nicht erwähnt. Vermutlich dachte sich Merkel, mit den Amtskollegen der Länder, die ohnehin für den Katastrophenschutz zuständig sind, ließen sich Verständigungen pragmatisch herstellen. Am Anfang war das sicherlich so, doch mit dem Beginn des Superwahljahres änderte sich die Situation.

MPK: Kontra von Malu Dreyer und Manuela Schwesig

Die SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die jüngst in Rheinland-Pfalz wiedergewählt wurde, legte sich bei der Beschränkung des Grenzverkehrs zu Frankreich, Belgien und Luxemburg quer. Ihre Parteikollegin Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern, wo in diesem Jahr ebenfalls gewählt wird, reagierte in den Schalten ebenfalls zunehmend pampig. Jeden ihrer häufigen Talkshow-Auftritte nutzt sie, um die Bundesregierung wegen des fehlenden Impfstoffes zu attackieren und gleichzeitig die eigenen Anstrengungen zu preisen. Und Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und neuer CDU-Vorsitzender, präsentierte sich mal als Lockerungsvorreiter, mal als Mahner. Ganz wie es ihm opportun erschien.

Legendär ist bereits jetzt der Streit ums Geld, den Markus Söder (Vielleicht-Kanzlerkandidat der Union) und Olaf Scholz (bereits erwählter Kanzlerkandidat der SPD) bei der Videoschalte Anfang März vom Zaun brachen. Der Genosse trieb den bayerischen Ministerpräsidenten dabei mit einer Bemerkung über dessen angeblich schlumpfiges Grinsen auf die Palme. Man könnte sich darüber amüsieren, wenn die Bundesrepublik nicht gerade in ihrer schwersten Krise steckte.

Viel besser lief es mit dem Bund-Länder-Gipfel dann auch am vergangenen Montag nicht. Man muss sich das einmal bildlich vorstellen: Der Anstieg der Infektionszahlen in Deutschland ist wieder exponentiell, diesmal mit einer Virusmutation, die noch gefährlicher ist – und die Ministerpräsidenten einiger Bundesländer pochen in stundenlangen Verhandlungen vor allem darauf, dass sie zu Ostern die Ferienwohnungen öffnen dürfen.

Daraufhin gibt es dann eine stundenlange Auszeit. „Ich habe sechs Stunden auf einen Bildschirm geschaut und mich gefragt, was hier eigentlich passiert“, schildert der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow am Mittwoch das Geschehen. „Bis 23.45 Uhr habe ich überhaupt nicht gewusst, wo die Bundeskanzlerin ist und wo ein Teil der Ministerpräsidenten abgeblieben sind.“

Als die dann wiederkommen, ist die fatale Idee von den Osterruhetagen geboren. Die stellt Angela Merkel in einer Pressekonferenz am frühen Morgen vor. Sie wirkt dabei müde und ausgelaugt. Nur so ist zu erklären, dass ihr der fatale Fehler unterläuft, die Folgen der Entscheidung offenbar nicht ansatzweise zu erfassen. Wobei zur Wahrheit gehört, dass es offenbar auch den 16 Ministerpräsidenten nicht aufgefallen ist.

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) gibt ehrlich zu, dass er auch nicht genau wisse, ob ein „Ruhetag“ mit einem Feiertag gleichzusetzen sei. Im Deutschlandradio erklärt er am Tag nach dem Gipfel, dass der Begriff wohl im Arbeitsschutzgesetz definiert sei: „Irgendwo steht es drin, aber es war heute früh um halb drei, als wir angefangen haben, darüber zu diskutieren.“

Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann, bringt das am Mittwoch im Bundestag zur Sprache: „Frau Merkel, wann trennen Sie sich endlich von dem MPK-Entscheidungsmechanismus, der systematisch Fehler produziert, weil hinter verschlossenen Türen, mitten in der Nacht, übernächtigt über das Leben von Millionen Menschen entschieden wird?“, fragt er die Kanzlerin. Die laviert, wie sie es meist bei den Pressekonferenzen nach der MPK tut und erklärt die Abstimmungen mit den Ländern für irgendwie schon auch notwendig.

Immerhin: Solange über die MPK geätzt wird, gerät die Bundesregierung ein bisschen aus dem Fokus. Was gerne vergessen wird: Im sogenannten Corona-Kabinett liegen die hauptsächlichen Kompetenzen. Seite an Seite mit der Kanzlerin sitzen zunehmend glückloser agierende Minister wie Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der nur zu Beginn der Pandemie neben dem Bazooka-Träger Olaf Scholz reüssierte, und Gesundheitsminister Jens Spahn, der erst beim Impfstoff-Kauf und später mit seiner Teststrategie scheiterte.

Denn das ist das wirklich Gefährliche an der Ruhetags-Krise, die die Kanzlerin verursacht hat: Sie reiht sich ein in eine ganze Anzahl von Fehltritten und Fehlentwicklungen. Die Fehltritte treffen vor allem Unionsabgeordnete: Da geht es um horrende Summen, die sich die Abgeordneten Nikolas Löbel und Georg Nüßlein als Provision für die Einfädelung von Maskengeschäften haben bezahlen lassen. Nüßlein hat zwar inzwischen sein CSU-Parteibuch zurückgegeben, er will sein Mandat aber bis zum Ende der Legislaturperiode im Herbst behalten. Ausfüllen wird er es wohl nicht, aber weiterhin eine fünfstellige Summe vom Steuerzahler beziehen. Die Fraktionsspitze der Union hat – sicherlich auch angesichts der Bundestagswahl im Herbst – schnell reagiert und von ihren Abgeordneten Ehrenerklärungen gefordert. Außerdem soll es einen eigenen Ehrenkodex geben, in dem sich die CDU- und CSU-Abgeordneten unter anderem verpflichten, ihr Mandat nicht zu versilbern. Einige Fraktionsmitglieder haben auf ihrer Bundestagswebseite bereits diskret einige Änderungen unter der Rubrik „veröffentlichungspflichtige Angaben“ durchgeführt.

Das alles ist skandalös und trägt zur Politikverdrossenheit bei. Doch schwerer wiegen die allgemeinen Fehlentwicklungen in diesem Land, die die Pandemie schonungslos offengelegt hat: eine veraltete Bürokratie, fehlende Digitalisierung, der Hang zu Überregulierung und – vor allem – die mangelnde Bereitschaft, all das zu ändern. Die Software Sormas ist dabei nur eines von vielen Beispielen. Sie soll die Gesundheitsämter besser miteinander vernetzen und den Datenaustausch erleichtern. Im November haben sich die Länder darauf verständigt, sie flächendeckend einzuführen.

Eigentlich hätte das Programm schon seit Ende Februar in allen Ämtern im Einsatz sein sollen. Das ARD-Politikmagazin „Kontraste“ hat alle 400 Gesundheitsämter angeschrieben. Ergebnis: Nur rund 90 Gesundheitsämter arbeiten tatsächlich mit der Software. Bei den allermeisten ist Sormas nicht aktiv, sondern „im Testbetrieb“. Vielleicht besprechen die Ministerpräsidenten das ja mal beim nächsten Bund-Länder-Gipfel. Er findet am 12. April statt. Das zumindest ist sicher.