Thilo Mischke: Wie Schweden zu einem der gefährlichsten EU-Länder wurde

Mehr als sechzig Tote durch Schusswaffen in einem Jahr: Unser Kolumnist reist in den Drogenkrieg von Stockholm und trifft jugendliche Täter.

Der Autor, Journalist und TV-Moderator Thilo Mischke
Der Autor, Journalist und TV-Moderator Thilo MischkeHorst Galuschka/Imago

Ich erinnere mich, dass genau vor einem Jahr, hier an dieser Stelle, diese Kolumne vom Frühling in der Ukraine erzählte. Ich erinnere mich an den Text und ich erinnere mich an den Frühling dort, weil ich ihn erlebt habe. Der feste Schlamm an der Sohle meiner Stiefel, die müden Glieder, abends, nachdem ich durch die Schützengräben gekrochen war. Mit Soldaten darüber sprach, dass niemand in Europa über diesen Krieg redet, dass dieser Krieg eskalieren und die Welt ins Chaos stürzen wird. Ich habe vom Platz der Vereinten Nationen und vom Leninplatz erzählt, nicht ganz zufällig. Von der Hoffnung, die im Frühling herrscht, und dass wir über den Winter hinweg immer wieder vergessen, dass der Frühling kommen wird.

Der Krieg ist eskaliert, doch die Welt ist nicht chaotischer als vorher. Dieser Krieg wird einer von vielen Konflikten sein, die parallel stattfinden.

Wir gewöhnen uns ans Parallele unserer Probleme. Sie finden, nun als großes Rauschen, im Hintergrund statt. Wir spüren Konflikte an den Aktienkursen, doch was spüren wir in uns?

Ich ahne das, weil ich mich als Journalist nun langsam wieder den anderen Problemen widme. Der Ukrainekrieg ist, wie Corona, noch da, aber jetzt ist es normal.

Ich bin in Schweden, in Stockholm. Seit sieben Tagen bin ich in der Hauptstadt, der Frühling ist auch hier angekommen, leckt am schwarzen Eis, das sich über Monate am Asphalt festgefroren hat. Die Menschen tragen ihre Schals locker und die Jacken geöffnet, ihre Köpfe immer halb Richtung Sonne. Sie lächeln.

Kinder von Einwanderern verkaufen Drogen an reiche Schweden

Ich bin hier, weil in Stockholm viele Menschen sterben. In den sieben Tagen, in denen ich hier war, wurden drei Menschen angeschossen, eine Wohnung ist explodiert, ich habe mit unzähligen Schwerverbrechern gesprochen, habe das schlafmohngleiche Tramadol versucht zu kaufen und mich mit Kindern somalischer Einwanderer unterhalten. Sie verkaufen Drogen an reiche Schweden, damit sie selbst sich das Leben der reichen Schweden leisten können. Der Preis für dieses Leben: Letztes Jahr mehr als sechzig Tote durch Schusswaffen. Schweden, das gefährlichste Land der EU?

„Keiner von uns nimmt Kokain“, sagt einer der Jugendlichen, während wir durch den Bezirk Rinkeby streifen. Eine Art Gropiusstadt von Stockholm, hohe Häuser und niedrige Erwartungen. Viele Menschen und wenige Chancen.

Die Hände in der Jacke. Zehn Geschwister, kein Geld, keine Hoffnung. Warum, will ich wissen. Und dann ein einfacher Satz, eine einfache Antwort. „Ich habe keine Heimat, obwohl ich hier geboren bin“, sagt er. „In Schweden geboren, aber Schwarz“, sagt er. „Du kannst einen Stein ins Wasser werfen, aber er wird dann immer noch nicht zum Fisch“, sagt er.

„Wenn du drauf bist, kannst du auch deine Schwester töten“

Er sagt es ohne Wut, ohne Traurigkeit. Er erklärt einfach, warum die Welt ist, wie sie ist. Das erklärt nicht die Gewalt, das erklärt aber den Willen, Grenzen zu überschreiten. Und natürlich das Tramadol, das hilft.

„Es betäubt dich und wenn du drauf bist, kannst du auch deine Schwester töten“, sagt er. Später lädt er mich auf eine Cola ohne Zucker ein. Sitzt klein, wie ein Jugendlicher, der er eigentlich ist, vor mir. Verschwindet in seiner Winterjacke, in seinen feinen Händen jongliert er ein Bällchen Silberpapier voller Kokain. Irgendwann verabschiedet er sich, will los. „Mehr Geld machen, für die Familie“, sagt er.

Und natürlich, wie bei uns, stürzen sich die Rechten auf das Thema, werfen sich mit aufgerissenen Augen auf die Eingewanderten. Fordern, wie die rechtsextreme Partei hier, die Schwedendemokraten, eine Abschaffung der Immigration. Sie fordern eine Abschaffung der Immigranten, der Flüchtlinge.

In Deutschland wie in Schweden, in Frankreich, in Italien und überall in den Industrienationen fordern Menschen, Menschen abzuschaffen.

Die Jugendlichen hier sind, wie überall auf der Welt, wie junge Schlangen, die im Moment der Bedrohung ihr ganzes Gift verspritzen. Sie töten, ohne viel zu spüren, wegen der Drogen, die sie nehmen. Sie wissen nicht, wohin mit ihrer Energie.

Die Politiker sagen, wir müssen die Grenzen schließen, und ich frage diese Politiker oft: „Und dann?“ Es ändert nichts an der Gewalt. Es ist wie ein Konflikt, ein Streit zu Hause, mit den Eltern, in der Partnerschaft.

Die Wut, die wir äußern, sie ist nicht das Problem. Das Problem ist, was die Wut ausgelöst hat. Danach müssen wir suchen. Ich frage einen rechten Politiker in Schweden nach dem Ursprung des Problems. Und er, er sieht mich an, wie Populisten gucken, wenn sie sich in eine Sackgasse navigieren, wenn sie von shithole countries sprechen, von den Migranten und der Lösung. „Wir brauchen mehr Mittsommer-Feste in Rinkeby“, sagt er. Und ich denke, er macht einen Witz. Er stöhnt erschöpft, als ich nachfrage. Aber ich erwarte nichts. Rechte Politik und rechter Journalismus handeln für sich, nicht für andere. Es ist schade, dass wir das seit fast 100 Jahren immer und immer wieder neu lernen müssen.