Kommentar: Erdogans Suche nach einem Freund in Russland

Der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in St. Petersburg soll nicht nur das Ende der Eiszeit besiegeln, das zwischen den beiden Staaten seit dem Abschuss des russischen Kampfjets durch die Türken im vergangenen November herrscht. Erdogans erste Auslandsreise nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli ist auch ein Zeichen der tiefen Entfremdung der Türkei vom Westen und ein übergroßes Warnsignal für die Europäische Union, die sich im Umgang mit dem schwierigen Partner am Bosporus nach dem versuchten Staatsstreich wieder einmal kein Ruhmesblatt erworben hat.

Zu Recht versteht niemand in der Türkei, warum bis heute kein einziger westlicher Spitzenpolitiker nach Ankara gekommen ist, um die Regierung und die Bürger der Türkei ihrer Solidarität gegen die Putschisten zu versichern, während Putin sofort seine Unterstützung signalisierte. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise reiste die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in sieben Monaten viermal in die Türkei, nach dem blutigen Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung ließ sie es bei Kondolenzfloskeln bewenden. Erst drei Wochen nach dem Putsch bemühte sich am Montag mit dem Außenamts-Staatssekretär Markus Ederer erstmals ein Vertreter der Bundesregierung nach Ankara – viel zu spät, viel zu niedriger Rang. Die Türkei hatte mindestens Außenminister Steinmeier erwartet. Sie fühlt sich schlicht im Stich gelassen.

Gesten sind eine wichtige Währung in der Politik. Natürlich sind die Massenverhaftungen und mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen verstörend, doch um wie viel glaubhafter könnte der Westen sie kritisieren, wenn er seine Solidarität für die türkische Demokratie und ihre mutigen Demokraten sofort und unmissverständlich bekundet hätte. Jetzt haben nicht nur Anhänger der Regierung das Gefühl, dass vom Westen nichts Gutes mehr zu erwarten ist. Es verwundert dann nicht, dass Erdogan sich nun andere Freunde sucht. Es ist höchste Zeit gegenzusteuern, denn die EU braucht die Türkei – nicht nur als Torwächter im Flüchtlingsdrama, sondern als Riegel der Stabilität gegen das Chaos des Nahen Ostens.

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