Weggucken mit System: Warum wird den Syrern nach den Erdbeben nicht geholfen?
Die internationale Gemeinschaft stiehlt sich aus ihrer Verantwortung für die Erdbebenopfer in Idlib. Das Wegsehen ist seit Jahren Programm. Ein Kommentar.

Grabesruhe herrscht über den Schuttbergen im Norden Syriens. Spezialisten mit modernster Ausrüstung vollbringen einige Kilometer entfernt in der Türkei immer noch Wunder und graben Menschen aus. Die Syrer konnten den Wettlauf gegen die Zeit mit wenigen Baggern und bloßen Händen nicht gewinnen.
Die internationale Hilfe endet bislang noch an der syrischen Grenze. Ein einziger Laster der UN hat seit der Katastrophe den syrischen Nordwesten erreicht. Die Syrer warteten auf Bergungsgeräte. Sie bekamen Waschpulver.

Idlib gleicht einer Falle für Millionen
Die Menschen in der letzten nicht vom Assad-Regime kontrollierten Region Idlib vegetieren seit Jahren auf engstem Raum in einer von Cholera verseuchten Menschenfalle dahin. Das Regime konzentrierte in dem Gebiet seine Gegner und schnitt sie von der Versorgung ab. Zu den 1,6 Millionen Einwohnern Idlibs kamen drei Millionen Vertriebene hinzu.
Assads Verbündete Russland und China ermöglichten das mit ihrem Veto gegen weitere Grenzöffnungen im UN-Sicherheitsrat. Lieferungen der UN dürfen momentan nur das Nadelöhr am Grenzübergang Bab al-Hawa passieren. Es kommt zu wenig durch, um die Menschen angemessen zu versorgen.

Doch nicht nur das Regime hat Idlib abgeriegelt. Die Türkei baute eine Mauer, um Flüchtlinge abzuhalten. Sie schickte Soldaten, um einen weiteren Vormarsch des Regimes und eine erneute Massenflucht zu verhindern. Angela Merkel hatte 2016 mit der Türkei ein Abkommen ausgehandelt. Es erlaubt, jeden Syrer in die Türkei zurückzuschicken, der EU-Boden betritt. Die Regierung in Ankara handelt mit ihrer Abschottung ganz im Sinne Brüssels.
Die Besatzungsmacht Türkei fühlt sich für die Zustände in Idlib nicht zuständig. Sie lässt Islamisten der HTS-Miliz walten. Die Gotteskrieger schrecken internationale Organisationen ab. Sie spielen dem Regime damit in die Hände.

Ankara und Brüssel wollen Flucht aus Syrien verhindern
Der Westen betrachtet Bashar al-Assad seit Beginn des Bürgerkriegs nicht als legitimen Machthaber. Die westlichen Staaten beachten die Hoheit des syrischen Regimes über seine Außengrenzen jedoch auch im Katastrophenfall penibel. Die syrische Armee kontrolliert die Grenzübergänge nicht, auf deren Schließung Russland und China im UN-Sicherheitsrat pochen. Die Türkei könnte Lieferungen und Hilfskräfte einfach durchlassen. Der Westen könnte sie schicken. Er könnte sich auf das Prinzip der Schutzverantwortung im Völkerrecht berufen. Bringt eine Regierung das Leben ihrer Bevölkerung in Gefahr, darf die Weltgemeinschaft eingreifen.
Zwei weitere Grenzübergänge nach Syrien werden geöffnet
Das Wegschauen scheint von der Angst motiviert zu sein, dass Syrer eine offene Grenze zur Flucht nutzen könnten. Menschenrechtsorganisationen richten diesen Vorwurf an die Adresse der Türkei. Aber er trifft auch die Europäer. Sie machen in der Abwehr von Flüchtlingen mit Ankara gemeinsame Sache.
Immerhin will Präsident Baschar al-Assad Diplomaten zufolge zwei weitere Grenzübergänge in die Türkei öffnen. Bab Al-Salam und Al Ra‘ee sollten für drei Monate geöffnet werden, berichtete der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths dem Sicherheitsrat am Montag mehreren Diplomaten zufolge. Griffiths hält sich derzeit in Syrien auf und traf Assad am Montag in Damaskus.
Und doch: Die Welt wird ihre Aufmerksamkeit bald auf andere Krisen richten. Es wird ganz im Sinne von Assad wieder still werden um die Elendsregion. Viele Syrer glauben schon lange, dass der Welt ihr Leid gleichgültig ist. Wer könnte jetzt noch widersprechen.