Lehrstunde von Lula für Scholz: Wie kam es zu dieser Blamage?

In Lateinamerika lief Bundeskanzler Scholz ins weltpolitische Abseits. Das war unnötig: Die Bundesregierung hätte die Position der anderen Länder kennen können. Ein Kommentar. 

Olaf Scholz und Luiz Inácio Lula da Silva bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Brasilia.
Olaf Scholz und Luiz Inácio Lula da Silva bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Brasilia.Kay Nietfeld/dpa

Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich in Lateinamerika eine Abfuhr bei dem Versuch geholt, weitere Staaten für die Unterstützung der Ukraine zu gewinnen. Zwar stimmen alle überein, dass der russische Angriff ein Bruch des Völkerrechts sei. Doch mit der Bitte um Militärhilfe blitzte Scholz ab: In Argentinien gab es ein glattes Nein, in Chile lediglich verbale Solidarität mit dem Verweis auf das Prinzip des Multilateralismus. Chile will der Ukraine nach dem Krieg bei der Beseitigung von Minen helfen. Besonders harsch war die Reaktion des neuen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula: Er lehnte jede Beteiligung an dem Krieg ab, auch eine indirekte, will also auch keine Munition für deutsche Leopard-Panzer bereitstellen. Mehr noch: Lula sagte, zu einem Krieg gehörten immer zwei; es sei nötig, über die Ursachen zu sprechen; die Rollen der Nato und Europas seien zu klären. Schließlich forderte Lula Verhandlungen unter Beteiligung Chinas. Über eine Friedensinitiative habe er schon mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gesprochen und wolle sie noch US-Präsident Joe Biden und dem chinesischen Staatschef Xi Jinping vorstellen.

Die klaren Worte haben Scholz und seine Berater überrascht und ließen die deutsche Delegation ratlos zurück. Das diplomatische Debakel wäre jedoch zu vermeiden gewesen, wenn die Bundesregierung die Entwicklungen in der Welt etwas weniger voreingenommen analysiert hätte. Lulas Aussagen enthielten nämlich noch weitere brisante Hinweise, die von einem neuen Selbstbewusstsein in vielen aufstrebenden Staaten des globalen Südens zeugen. So sagte der brasilianische Präsident, dass Geopolitik heute nicht mehr mit den Maßstäben von 1945 gemacht werden könne. Er forderte eine Neubesetzung des UN-Sicherheitsrats, mit Sitzen für Brasilien und die afrikanischen Staaten. Zum von Scholz wie Glasperlen dargebotenen Freihandelsabkommen der EU mit der Mercosur-Gruppe machte Lula deutlich, dass man sich nicht über den Tisch ziehen lassen wolle.

Deutsche Selbstherrlichkeit: Andere Meinungen als „Fake News“ abgewertet

All diese Positionen sind nicht neu: Brasilien ist Mitglied der BRICS-Gruppe, eines losen Zusammenschlusses von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Erst vor wenigen Tagen hatte die Außenministerin Südafrikas bei einem gemeinsamen Auftritt mit ihrem im Westen geächteten russischen Kollegen Sergej Lawrow gesagt, man habe kein Verständnis, dass der Westen gegenüber dem Rest der Welt mit doppelten Standards agiere. Die BRICS-Gruppe wird im Westen immer etwas belächelt, weil sie keine rechtlich bindenden Beschlüsse fassen kann. Allerdings könnte sich das in einer sich schnell verändernden Welt auch als Vorteil erweisen: Die Gruppe ist nämlich dazu übergegangen, ihre Machtinteressen zu poolen und bilateral zu kooperieren. So wollen Brasilien und Argentinien eine Währungsunion gründen, womit Argentinien näher an die BRICS rücken würde. Saudi-Arabien bekundete Interesse am Beitritt, nachdem Chinas Präsident mit den Saudis über vertiefte Beziehungen gesprochen hatte. Die unauffällige Stärkung der BRICS ist unter anderem eine Reaktion auf die von Lula angesprochene Dysfunktionalität der UN. Nach dem russischen Angriff haben sich die BRICS-Staaten nicht der westlichen Position angeschlossen. Würde man in Berlin nicht mit einer gewissen Selbstherrlichkeit ausländische oder nicht der eigenen Meinung entsprechende Informationen als „Propaganda“ oder „Fake News“ abtun, hätte man wissen können, wo die Brasilianer stehen.

Geschwächt hat sich der Westen aber auch mit dem spektakulären Bekenntnis der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es entstand der Eindruck, der Westen habe die Minsk-Vereinbarungen nicht ernst genommen und auf Zeit gespielt, um die Ukraine aufzurüsten. In Deutschland wurde diese Enthüllung als verschämte Randnotiz wahrgenommen. Doch im Rest der Welt schlug die Nachricht ein: Wenn das bisher als Inbegriff der Seriosität in vielen Teilen der Welt bewunderte Deutschland mit solchen Tricks operiere, könne man den Europäern nicht trauen, so der Tenor. So gesehen signalisiert das Scheitern von Olaf Scholz in Lateinamerika eine Zeitenwende. Die Bundesregierung muss sich schleunigst darüber orientieren, was in der Welt los ist. Deutschland muss seine Interessen definieren und herausfinden, wie diese am effizientesten durchgesetzt werden können. Sonst heißt es künftig: hinten anstellen!