Nach USA-Abschuss des China-Ballons: Baerbock sollte jetzt Nenas „99 Luftballons“ hören
Die Affäre um den mutmaßlichen chinesischen Spionageballon sagt viel aus über den derzeitigen Zeitgeist. Zeit für Musik, also Lautsprecher an! Ein Kommentar.

Jetzt schießen wir also tatsächlich auf Luftballons. Am vergangenen Samstag wurde ein Ballon vom US-Militär abgeschossen, der sich zuvor mehrere Tage lang über dem Staatsgebiet der Vereinigten Staaten bewegte. Der Ballon überflog auch sensible Militäranlagen im Bundesstaat Montana, die er mutmaßlich auskundschaftete.
Man hielt den Ballon nicht etwa für ein Ufo aus dem All. Schnell war klar, dass es sich um ein schwebendes Objekt handelte, das chinesischen Ursprung hatte. Der Abschuss kommt wenig überraschend. Die Souveränität des eigenen Territoriums und damit auch der eigene Luftraum sind heilig. Jeder Staat der Welt beharrt auf die Unverletzlichkeit der eigenen Grenzen und würde entsprechend reagieren. Trotzdem wurde eine Rakete auf einen Ballon abgefeuert, was an die wohlbekannte Redewendung vom Kanonenbeschuss auf Spatzen erinnert und zu denken gibt.
Denkst du vielleicht grad an mich? Dann singe ich ein Lied für dich
Dass die Amerikaner erst einmal ein Liedchen anstimmen und den chinesischen Ballon in Ruhe beobachten, war sicherlich kein Gedanke, der in Peking aufkam, als der Ballon entdeckt wurde. Denn in einer allgemein martialischen Stimmung, während ein Krieg in Europa tobt und die Beziehungen zu China ohnehin verstimmt sind aufgrund der Taiwan-Frage und der verbalen Unterstützung Russlands aus Peking, war im Pentagon sicherlich niemandem zum Singen zumute.
Auch wenn schnell klar war, dass ein derartiges Objekt nicht viel mehr zur Auskundschaftung beitragen kann als chinesische Satelliten, die ohnehin tagtäglich das Territorium des vermeintlichen Feindes scannen, erfolgte eine Reaktion des US-Militärs. Irgendein General schickte eine Fliegerstaffel hinterher. Man war also alarmiert über den Ballon am amerikanischen Horizont, der in etwa 18 Kilometer Höhe über den USA tourte. Und US-Präsident Biden gab bereits am vergangenen Mittwoch den Abschussbefehl. Gewartet wurde dennoch, bis das Objekt das Festland verlässt, damit herabstürzende Trümmerteile keine Gefährdung der Zivilbevölkerung mit sich bringen.
Am Samstag war es dann so weit. Der Ballon erreichte den Atlantischen Ozean und wurde über der amerikanischen Ostküste vom Himmel geholt. Da es nur ein Ballon war, genügte auch ein einziges F-22-Kampfflugzeug, das mit einer Luft-zu-Luft-Rakete den Job erledigte. Die Fliegerstaffel wurde also wieder zurückgepfiffen.
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Die großen Krieger und Captain Kirks führen das Wort
Es bedurfte also keiner 99 Düsenflieger und wahrscheinlich auch keiner 99 Kriegsminister, um die Ballonaffäre zu lösen. Dennoch kamen zunächst Forderungen aus den republikanischen Reihen, auch vom ehemaligen Präsidenten Trump, die eine militärische Antwort auf die Verletzung des amerikanischen Luftraums sehen wollten.
Auf Gegenwehr stießen diese Wünsche nicht. Die regierenden Demokraten um Präsident Joe Biden ließen sich nicht lange bitten. Die Trennung zwischen konservativen Falken und pazifistischen Linken ist in vielen Fragen obsolet geworden. Gerade in den Konflikten mit Russland und auch China herrscht diesbezüglich eine Einigkeit, die, wenn überhaupt, nur durch den geforderten Härtegrad unterscheidbar ist.

Auch hierzulande stammen die führenden Krieger aus den Reihen der Grünen. Wir haben einen Bundeskanzler, der regelmäßig von seinen olivgrünen Koalitionspartnern geradezu getrieben wird, wenn Waffenlieferungen an die Ukraine zu lange dauern. Unsere grüne Außenministerin sagte vor kurzem sogar ganz offen, dass wir uns in einem Krieg mit Russland befinden, was später von der Bundesregierung korrigiert werden musste.
Dass eine Partei, deren Ursprung in der Friedensbewegung liegt, zum Liebling der Waffenindustrie geworden ist – aus welchen Gründen auch immer –, wundert mittlerweile niemanden mehr. Und auch wenn Streichholz und Benzinkanister in Moskau stehen, begeben wir uns in eine Eskalationsspirale, die alternativlos erscheint.
Die Debatte um den Leopard-Kampfpanzer, die den kompletten Januar dominierte, ging nach zugesagter Lieferung direkt über auf Kampfflugzeuge. Und es dürfte niemanden überraschen, wenn in ein paar Monaten doch mindestens 99 Düsenflieger an Kiew geliefert werden (müssen).
Dass es einmal so weit kommt wegen eines Luftballons
Genauer gesagt geht es derzeit um zwei Ballons, da ein neues Objekt in Lateinamerika über Kolumbien und Costa Rica gesichtet wurde. China behauptet, dass es sich dabei um zivile Forschungsballons handelt, die versehentlich vom Kurs abgekommen sind. Die Trümmerteile des abgeschossenen Ballons sollen in Virginia vom FBI ausgewertet werden und in den kommenden Tagen sicherlich aufschlussreichere Informationen bringen.
Die chinesische Regierung warf den USA eine „Überreaktion“ und einen „Verstoß gegen internationale Praxis“ vor. Zudem kündigte man an, zukünftig in ähnlichen Situationen, also bei mutmaßlichen amerikanischen Spionageaktionen, ebenso militärisch zu reagieren. Die Jagdsaison auf Luftballons ist also eröffnet.
Washington weist die chinesische Darstellung klar zurück und argumentiert mit einer Manövrierfähigkeit des Ballons, der gezielt über „strategische Anlagen“ gelenkt wurde. US-Außenminister Antony Blinken sagte nach Sichtung des Ballons seinen am vergangenen Sonntag geplanten China-Besuch prompt ab. Die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Washington und Peking steuern also einen neuen Tiefpunkt an.
99 Jahre Krieg ließen keinen Platz für Sieger
Nenas bekannter Song „99 Luftballons“ aus dem Jahre 1983 ist nun gut 40 Jahre alt. Das Anti-Kriegs-Lied entstand in der Endzeit des Kalten Krieges und wurde zu einem Welthit. Der Nato-Doppelbeschluss von 1979 und die Stationierung von Pershing-II-Raketen Anfang der 80er in Deutschland wurden von vielen als steigende Gefahr einer atomaren Eskalation empfunden, woraus sich auch die Friedensbewegung bildete.
Der Song handelt von der grotesken Situation, dass am Himmel fliegende Luftballons einen globalen Krieg auslösen, der die Welt vernichtet. 99 Jahre Krieg sind zum Glück ein weit entferntes und unrealistisches Szenario, über das hoffentlich nie diskutiert werden muss. Dennoch läuft der Krieg in der Ukraine nun schon seit gut einem Jahr. Sein Ende zeichnet sich nach wie vor nicht ab und die Gefahr besteht, dass eine weitere Front in Südostasien eröffnet wird. Denn die Beziehungen zu China werden nicht besser. Ein Grund für die unterstützende Haltung Pekings für Putins Krieg in der Ukraine ist, dass man in China glaubt, als Nächstes dran zu sein.
Hielten sich für schlaue Leute
Die westlichen Mächte sollten sich vielleicht fragen, was die Exit-Optionen sind. Putins Aggression darf nicht toleriert werden und Russland darf den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen. Das haben wir schon mal festgelegt. Dass wir Vermittlungsversuche, wie jüngst aus Brasilien, sofort abschmettern, ist vielleicht auch nicht zielführend.
Die Frage, die sich auch viele Militärs stellen, ist, wie eine Atommacht den Krieg eigentlich verliert? Das afghanische Szenario, wo die mächtige Sowjetunion sich zurückziehen musste, gilt wohl als Hoffnung (nur bitte nicht erst nach zehn Jahren). Aber ist es wirklich die einzige Option?
Auch mit Blick auf China und den sich anbahnenden Konflikt in Taiwan besteht leider die Gefahr einer zunehmenden globalen Eskalation, die es zu vermeiden gilt. Der Ballonvorfall darf nicht überbewertet werden. Spionage und der Versuch von Spionage zwischen den Großmächten ist etwas Alltägliches. Dass die Reaktionen auf solche Vorfälle zunehmend aggressiv sind und deeskalierende Stimmen sich aus dem allgemeinen Diskurs nahezu verabschiedet haben, ist dagegen eine gefährliche Entwicklung.
Vielleicht ist es an der Zeit für eine neue Friedensbewegung, um den Falken, die den derzeitigen Zeitgeist bestimmen, ein Gegengewicht zu präsentieren. Damit es am Ende nicht heißt: „Heute zieh ich meine Runden/ Seh die Welt in Trümmern liegen/ hab ’nen Luftballon gefunden/ Denk an dich und lass ihn fliegen.“
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