Kommentar zu „Enthemmte Mitte“: Wir müssen die offene Gesellschaft verteidigen
Berlin - In Deutschland sind rechte Einstellungen erschreckend weit verbreitet. Das ist dank Pegida und AfD evident und findet sich nun auch in der neuen Studie „Die enthemmte Mitte“ von Extremismusforschern der Universität Leipzig bestätigt. Schon vor zehn Jahren erkannten die Wissenschaftler: rechtsextreme Einstellungen lassen sich nicht mehr als Randphänomen charakterisieren, sondern sind ein Problem der gesellschaftlichen Mitte. Vor allem Ausländerfeindlichkeit gilt seit langem in weiten Teilen der Gesellschaft als konsensfähig, unabhängig von Geschlecht, Bildungsgrad und Parteienpräferenz.
Heute allerdings, das ist der wesentliche Unterschied zur Studie von 2006, sind mehr Menschen bereit, ihre rechte Gesinnung zu dokumentieren – sei es nur, indem sie eine rechtsextreme Partei wie die AfD wählen, oder indem sie sogar Gewalttaten gegen Ausländer offen akzeptieren. Bisher war es für viele trotz rechter Einstellungen kein Problem die traditionellen Volksparteien oder sogar die Linke zu wählen. Die etablierten Parteien hatten noch eine beträchtliche, wenn auch nachlassende Bindekraft. Mittlerweile hat sich nicht nur der politische Diskurs nach rechts verlagert, sondern rechtspopulistische Gruppen und Parteien wie die AfD mobilisieren jene Menschen, die eine Partei wie die NPD nicht erreicht hat. Damit manifestiert sich eine gesellschaftliche Spaltung, die latent schon länger existiert. Die Flüchtlingsdebatte ist da bloß ein Katalysator und zeigt, wie stark zwischenzeitlich überwunden geglaubte völkische Vorstellungen in Teilen der Gesellschaft verankert sind.
Die Leipziger Forscher werfen zu Recht die Frage auf, wieso heute in einer offenen Gesellschaft der Ethnozentrismus und autoritäre Einstellungen noch so stark sein können. Doch trotz umfangreicher Überlegungen – etwa zum autoritären Charakter in der modernen Gesellschaft – kommen sie hier zu keinen politisch praktikablen Ergebnissen. Das ist zwar verständlich, da ein erneuter „Aufstand der Anständigen“ gewiss auch nicht nachhaltiger wäre als der letzte. Doch es ist auch enttäuschend. Es bleibt also, auf die engagierte Zivilgesellschaft zu vertrauen, die bisher immerhin die offene Gesellschaft engagierter verteidigt als Union und SPD.