Kommentar zu Flüchtlingsdebatte nach Vorfällen in Köln: Wer über Heidenau sprechen will, darf über Köln nicht schweigen

Berlin - Jakob Augstein ging mit dem denkbar schlechtesten Beispiel voran. „Ein paar grapschende Ausländer und schon reißt bei uns der Firnis der Zivilisation“, befand der linke Publizist bei Facebook unter der entlarvenden Überschrift „Kurz was zu Köln“. Es klang so, als würden bereits Internierungslager für Menschen aus dem arabisch-nordafrikanischen Raum errichtet. So weit wie Augstein, der die Bezeichnung „grässlich“ zur Beschreibung der Vorfälle schon übertrieben findet, geht kein anderer. Relativ geläufig ist in diesen Tagen aber in linken Kreisen, darauf hinzuweisen, dass sexuelle Belästigungen nicht nur vor dem Kölner Hauptbahnhof stattgefunden hätten, sondern auf dem Münchner Oktoberfest an der Tagesordnung seien – oder beim Karneval.

Der stellvertretende grüne Landesvorsitzende Michael Gwosdz nannte gar alle Männer „potenzielle Vergewaltiger“. Dritte setzen sich vornehmlich mit den hasserfüllten rechtspopulistischen Reaktionen auf die Ereignisse in der Silvesternacht auseinander, nicht mit den Ereignissen selbst. Derlei Reaktionen sind Ausdruck von Abwehr, Schmerz und der Weigerung, bisher für gewiss Gehaltenes zu überprüfen.

Linke Köln-Kritik wäre bitter nötig

Es fällt verständlicherweise schwer, aus den Schützengräben herauszukommen. Denn keine Frage treibt die Gesellschaft derart auseinander wie das Verhältnis zu Migranten im Allgemeinen und Flüchtlingen im Besonderen. Hier wird nicht argumentiert. Hier findet eine Schlacht statt und verhärtet die Kombattanten. Zudem ist der Rechtspopulismus europaweit auf dem Vormarsch. Und viele Konservative tun gegen seit Monaten andauernde Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte – nichts. Dennoch oder gerade darum wäre eine linke Köln-Kritik bitter nötig. Um ein Zitat Max Horkheimers abzuwandeln: „Wer über Heidenau sprechen will, der darf über Köln nicht schweigen.“

So wie die rassistischen Ausschreitungen von Heidenau kein Zufall waren, so war es auch Köln nicht. Während die Sachsen offenbar anfällig sind für rassistisches Denken und Handeln, so sind es junge Männer aus dem Nahen und Mittleren Osten für Sexismus und Gewalt. Beide Phänomene lassen sich historisch-soziologisch erklären. Anfällig zu sein, ist kein Pauschalurteil. Doch die Diagnose muss gestellt werden dürfen.

Genauso wie gesagt werden durfte und gesagt wurde, dass in der rigiden katholischen Sexualmoral ein Grund für die Missbrauchsfälle unterm Kirchendach lag und in der in Teilen überzogenen sexuellen Revolution der 68er-Bewegung ein Grund für Pädophilie in den Anfängen der Grünen. Es geht um je eigene Ursachenforschung und Problembewältigung. Dass Rechtspopulisten Köln für ihre Zwecke ausschlachten, ist bedauerlich, doch kein Anlass, die Dinge nicht in aller Schärfe zu benennen.

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