Steigende Armut ist sozialer Sprengstoff
Deutschland bricht auseinander in arm und reich, sagt der Paritätische Gesamtverband. Also bitte keine Entlastungspakete mit der Gießkanne mehr.

Wer wissen will, wo sich Potenzial für soziale Unruhen verbirgt, muss nach ganz unten schauen. Dort, wo es Menschen wirklich schlecht geht. Die absolut kein Geld haben. Die Mitte des Monats nicht mehr wissen, wie sie noch bis zum Ende durchhalten sollen. Die abhängig sind von Almosen und dem Staat. Wo es nicht mehr um Chaos auf Flughäfen oder Frust an der Tankstelle geht.
Wenn diese Gruppe rasant wächst, ist es nicht nur bitter für die Betroffenen, weil sie auch in einem Wohlstandsland sehr einfach leben müssen und nicht teilhaben können an den Angeboten einer Gesellschaft. Es kann sich darüber hinaus daraus auch etwas entwickeln, das gefährlich ist für alle: die Spaltung eines Landes. Dass Ungerechtigkeit einen Nährboden für alles Mögliche bietet, weiß man spätestens seit der Französischen Revolution. Leider sieht man gerade ein solches Auseinanderdriften in diesem Land.
Deutschland bricht auseinander. So nannte es am Mittwoch Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, als er den aktuellen Armutsbericht präsentierte. Das ist eine pathetische Formulierung. Allerdings ist die Lage ja auch so schlimm wie seit der deutsch-deutschen Vereinigung nicht mehr.
In der abflauenden Pandemie hat die Armut einen neuen Höchststand erreicht. Und so wird es jetzt angesichts von Inflation und steigenden Preisen wohl auch weitergehen. Mit Blick auf den kommenden Herbst, wenn die Nachzahlungen für Strom und Gas fällig werden, kann uns da schon mal ein bisschen mulmig werden. Die Dinge werden sich weiter verschlimmern. Das ist absehbar.
Steigende Preise machen noch ärmer
Denn der derzeitige exorbitante Anstieg der Lebenshaltungskosten erzeugt weitere Armut. Sozialtransfers wie Grundsicherung, Wohngeld oder Bafög, die Armut eigentlich verhindern sollen, wirken nicht mehr. Die Grundsicherung deckt nicht mehr das Existenzminimum. Armut vertieft sich. Und die bisherigen Entlastungspakete sind mehr oder weniger verpufft.
Im Armutsbericht ist eine Reihe weiterer Beobachtungen festgehalten, die uns alle und vor allem die Regierung jetzt alarmieren sollte. Kinder und Rentner trifft es besonders übel. Fünf Länder, darunter auch Berlin, haben sich auffallend negativ entwickelt.
Negativer Spitzenreiter ist dann auch noch das Land mit der größten Bevölkerung: Nordrhein-Westfalen. Die Zustände sind dort zum Teil wirklich krass. In einer Stadt wie Gelsenkirchen lebt bereits jeder Vierte von Hartz IV. Bald jedes zweite Kind ist betroffen. Bayern, Baden-Württemberg und erstaunlicherweise auch Brandenburg geht es dagegen recht gut.
Hier sind tiefer gehende Analysen fällig, woran es liegt und wie die negativen Entwicklungen positiv zu beeinflussen wären. Darüber hinaus ist aber auch ein Kurswechsel bei den Entlastungen fällig, die der Staat gerade zahlt, um die sprunghaften Entwicklungen auf dem Energiesektor und bei den Lebensmittelpreisen abzufedern.
Es hat keinen Sinn, weiter mit der Gießkanne Geld zu verteilen. Tank- und Stromrabatte nützen Menschen, die viel verbrauchen besonders viel. Worin liegt der Sinn einer solchen Umverteilung von Steuergeld? Stattdessen brauchen wir gezielte Entlastung ganz unten und bei denen, die gerade drohen abzurutschen. Hier einen Mechanismus zu finden, der auch Letztere miteinbezieht, ist nicht ganz einfach. Aber es sollte doch möglich sein. Vorschläge gibt es schließlich.
Die Ampelkoalition müsste allerdings ihre derzeit auffallenden internen Gemetzel mal einstellen. Dieser Vorwurf richtet sich besonders an die FDP. Auf der Suche nach einem neuen Profil, das den Wählerverlust aufhält, den die Partei bei den letzten Landtagswahlen erlitten hat, blockiert sie derzeit mehr, als dass sie konstruktiv zur Sache beitragen würde. Das merken allerdings auch die Wähler.
Wenn im Herbst tatsächlich Strom- und Gaspreise durch die Decke gehen sollten, brauchen wir eine Antwort für Menschen, die jetzt schon nichts haben. Man muss den Sozialverbänden nicht folgen, wenn sie jetzt prognostizieren, dass dann wirkliche Not ausbrechen wird. Es reicht schon, dass es sich für viele Menschen wohl so anfühlen wird. Beute für Rechtsradikale sieht Ulrich Schneider hier.
Entlastung in der Krise ist aber nur das eine. Dauerhaft sollte sich kein Staat eine wachsende Gruppe von Menschen leisten, die von Entlastungspaket zu Entlastungspaket hüpfen. Hier sollten die politischen Akteure ihre Energien konzentrieren. Es kann nicht so bleiben, dass die Hälfte der Bürger in diesem Land über keinerlei finanzielle Reserven verfügt und Millionen Menschen auf Grundsicherung angewiesen sind. Eine Gesellschaft mit weniger Armut stünde in der Krise besser da.