Kommentar zum Kirchentag: Der Kirchentag ist nicht die Kirche

Es ist wieder Kirchentag, Deutscher Evangelischer Kirchentag, diesmal in Hamburg. Alle zwei Jahre findet diese größte Laienveranstaltung in Deutschland statt. Den Eröffnungsgottesdienst am Abend des Ersten Mai besuchten knapp 90 000 Menschen, bis zum Sonntag gibt es über 2 500 Veranstaltungen, vom Rockkonzert bis zur Bibelstunde. Kirchentag heißt immer: volle Stadt, lustige Menschen, eifrige Debatten. Das ist auch in seiner 34. Auflage so.

Wer immer geglaubt haben mag, das religiöse Leben in diesem Land sei am Verschwinden, wer meinte, das 21. Jahrhundert und christlicher Glaube seien unvereinbar, wer immer also meinte (oder hoffte), Aufklärung und Moderne seien Synonyme für Säkularisierung, wird angesichts des Kirchentages in ernste Erklärungsnöte kommen. Es gibt weder Gründe zur Hoffnung noch Anlässe zur Sorge, dass der Glaube aus der Gesellschaft verschwindet. Gerade Kirchentage waren stets entscheidende Impulsgeber und Debattenorte. Gerade hier wurden wesentliche Fragen der Gesellschaft verhandelt.

Gerechtigkeit als Generalthema

Der Kirchentag 1981 etwa, ebenfalls in Hamburg, gilt als einer der politischsten. Er wurde von der Friedensbewegung und ihrem Kampf gegen den Nato-Doppelbeschluss dominiert. Regelmäßige Themen sind außerdem Umwelt und Umweltschutz. Zu recht rühmt sich der Kirchentag, die „umweltfreundlichste Großveranstaltung“ zu sein. In diesem Jahr stehen die Veranstaltungen unter dem Motto „Soviel du brauchst“, eine sehr freie Übersetzung eines Bibelwortes aus dem Alten Testament.

Gerechtigkeit als Generalthema des Kirchentages: Öffentlichkeitswirksamer hätte man es in diesen Hoeneß-bewegten Wochen nicht treffen können. Und es gibt ja in der Tat viel zu reden darüber und viel zu tun für die Gesellschaft. Die Chancen, dass von diesem Kirchentag spürbare Impulse ausgehen werden, sind nicht gering. Das ist schön, gut und erhaltenswert. Aber der Kirchentag ist nicht die Kirche.

Er ist nicht einmal eine Veranstaltung der Evangelischen Kirche Deutschland, sondern eine zwar eng an die Kirche angebundene, aber betont eigenverantwortliche Laienbewegung. Das ist ein Unterschied. Es ist auch ein Unterschied, ob von einem Kirchentag Impulse für die engagierte Öffentlichkeit oder aber für die Kirche ausgehen. Letzteres ist eher selten zu vernehmen.

Forderungen der Vernunft

Kirche ist ihrem theologischen Selbstverständnis nach etwas ausgesprochen Anspruchsvolles, man muss daran erinnern. Sie ist ekklesia, Gemeinschaft der Gläubigen, liturgische geeinte, betende Gemeinde. Das ist etwas anderes als umwelt-, friedens- und gerechtigkeitsbewegtes Großgruppenengagement. Kirche ist getragen von einem Bekenntnis, dem Bekenntnis zum „Wort vom Kreuz“, zum gekreuzigten Christus, dem gestorbenen und auferstandenen Erlöser. Es gibt Kirche um dieser Botschaft willen, eine Botschaft, die allen nichtgläubigen eine Torheit ist, wie es der Apostel Paulus, der scharfsinnigste aller Theologen, in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth schrieb.

Die Gefahr eines Kirchentages ist deshalb immer die Produktion falscher Bilder von Glaube, Gott und Kirche. Es ist die Gefahr, das (gute und gut gemeinte) Engagement für die Gesellschaft, für Gerechtigkeit oder Frieden, als Ausweis einer christlichen Moral oder, noch ärger, als Legitimation für die Kirche zu nehmen.

Es kann auch evangelischen Christen nicht schaden, auf einen katholischen Bruder zu hören. Joseph Ratzinger hat, als er noch nicht Papst Benedikt XVI. gewesen ist, einmal geschrieben: „Falsche Simplifikationen schaden dem Gespräch mit den Religionen.“ Sie schaden auch dem Gespräch mit einer säkularen Gesellschaft. Sie schaden vor allem dann, wenn sich die Kirche zum dienstbaren Knecht einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung als Wertelieferant machen lässt.

In falscher Münze

Wenn sie ihre theologische Botschaft in kleiner, vereinfachter und damit falscher Münze auszahlt. Die Kirche ist weder eine Anstalt zur sozialpädagogischen Volkserziehung noch ein Therapiezentrum zur Ausbildung gesellschaftsdienlichen Engagements. Sie ist auch keine Werteagentur, sondern eben: Gemeinschaft der Gläubigen.

Dass sich diese Gläubigen für Gerechtigkeit oder Frieden einsetzen, ist schön, aber keine Folge des Glaubens, sondern (hoffentlich) der Vernunft. Auch Gläubige sind vernünftige Menschen und als solche wie alle zum Engagement für eine bessere Gesellschaft aufgerufen. Das aber ist nicht die erste Aufgabe der Kirche. Es ist zudem eine wichtige, nicht zu verlierende Errungenschaft der Kirche, kein politischer Akteur auf dem Werte-Markt zu sein. Sie war es in der Geschichte viel zu oft, mit bisweilen schlimmen Folgen. Ein Kirchentag, der dies nicht vergisst und nicht beiseiteschiebt, wird ein gelungener sein.