Kommentar zur Europawahl: Für Union und SPD ist alles noch viel schlimmer gekommen
Sie hatten es schon befürchtet, und dann kam alles noch schlimmer. Union und SPD gehen wieder einmal geschwächt aus einem Wahlsonntag, die Niederlagen sind dieses Mal allerdings historisch. Weniger als 30 Prozent für die Union bei einer nationalen Wahl, deutschlich weniger als 20 Prozent für die SPD – das gab es noch nie. Wieder ist ein Stück Vertrauen bei den Wählerinnen und Wählern verloren gegangen. Aus den Volksparteien von einst werden die Halbvolksparteien von heute.
An ihre Stelle rücken zunächst die Grünen. Die Führung um die Parteivorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock hat es geschafft, den Reiz des Neuen in die Politik zu bringen, eine frischere Sprache zu etablieren. Und mit Greta Thunberg, Rezo und den Youtubern hat die Klimapolitik in diesem Jahr unerwartet eine bärenstarke Unterstützerlobby erhalten und damit die Kernziele der Ökopartei unterstützt. Längst haben die Grünen die SPD links der Mitte des politischen Spektrums als Fixstern abgelöst.
SPD steht nur noch am Rand
Der nächste Gegner wartet nun in der Mitte: die Union. Schon jetzt sind die Grünen so stark wie die CDU, wenn man CDU und CSU auseinanderrechnet. Das entscheidende Duell der kommenden Jahre wird zwischen Habeck und Baerbock auf der einen – und Annegret Kramp-Karrenbauer ausgefochten. Die SPD steht nur noch am Rand.
Für die Parteispitzen von Union und SPD beginnt nun eine schwierige Zeit. Kramp-Karrenbauer bei der CDU und Andrea Nahles in der SPD sind die obersten Verwalter alter Strukturen. Beide Chefinnen sind in den eigenen Reihen umstritten, nun hat sich die Lage noch einmal verschärft. Kramp-Karrenbauer wird nun wohl ins Kabinett wechseln (müssen!), als Innen- oder Wirtschaftsministerin. Nur so kann sie den Makel der Einflusslosigkeit loswerden. Sie kann noch immer hoffen, dass sie sich so irgendwann ins Kanzleramt rettet. Sicher ist das aber längst nicht mehr.
Die SPD ist ausgebrannt
Andrea Nahles hat in der SPD weniger Möglichkeiten als ihre Kollegin. Sie wird sich nun einer Debatte stellen müssen, ob sie den Fraktionsvorsitz oder die Parteispitze abgibt, es kursieren bereits Namen. Schon kurz nach Schließung der Wahllokale meldete sich Ex-Parteichef Gabriel und forderte, alles müsse auf den Prüfstand. Aber Nahles weiß, dass die Trennung der Ämter der Anfang vom Ende ihrer eigenen Macht wäre. Aber würde es vor den wichtigen Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst überhaupt helfen? Wohl kaum. Die SPD ist ausgebrannt, programmatisch und personell.
Die Europawahl hinterlässt den Kontinent und das Land mit der Erkenntnis, dass sich das politische System, die Parteienlandschaft noch ein wenig mehr aufgesplittert hat. Das Wählerverhalten ist ein erneuter Schrei nach Erneuerung bei den etablierten Parteien. Aber werden sie es dieses Mal verstehen? Dabei ist die Botschaft klar: Es geht um echte Beteiligungsprozesse und um Transparenz, um neue Spannung und das Gefühl, Dinge ändern zu können. Die Realität ist dagegen: Selbst bei interessanten, offeneren Verfahren wie der Urwahl tun sich Parteien noch immer schwer. Dabei hat die Auswahl der Nachfolge Angela Merkels an der CDU-Spitze im Herbst gezeigt, wie gut so ein Wettstreit ankommt, wenn man ihn sich nur zutraut traut. Und trotzdem beginnen in der SPD schon wieder die Verhinderer, ihre Netzwerke zu spannen.
Europawahl als Weckruf
Diese Europawahl war ein Weckruf. Das Arbeitsleben und die Welt drehen sich schneller, jede Bürgerin und jeder Bürger spürt die Veränderung täglich. Wenn Union und SPD nicht mitmachen, dann haben sie keine Zukunft. Wer sich neu erfindet, dagegen schon. Die Disruption des Parteiensystems muss nicht im Extremismus enden, das zeigt die vergangene Woche, als die junge, digitale Generation den Aufstand wagte. Die Menschen interessieren sich für Politik, die Jugend marschiert, postet und kommentiert. Optimismus und Beweglichkeit haben eine Chance. Die Wahlbeteiligung steigt. Dieser Wahlsonntag war für die Volksparteien schlecht. Für die Demokratie war er es ein Fest.