Kommt es bald zur Entscheidungsschlacht um die Krim?
Das Patt zwischen der Ukraine und Russland könnte beendet werden, wenn die Ukraine eine neue Front auf der Krim aufmacht. Es könnte schon bald soweit sein.

In den USA mehren sich die Stimmen, die eine Überwindung des militärischen Patts zwischen der Ukraine und Russland durch eine Vorwärtsverteidigung für zielführend halten. Es könnte eine Spezialoperation gegen die Krim geben, um am Ende eine echte Verhandlungsposition aufzubauen. So schreibt das Magazin Foreign Policy in einem aktuellen Beitrag, dass es die Ukraine Ernst meine mit der Rückeroberung der Krim.
Der pensionierte Generalleutnant Ben Hodges, ein ehemaliger Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa, ist ebenfalls Befürworter dieser Idee. „Die Krim ist das entscheidende Terrain – darauf kommt es an. Wenn die Ukraine die Krim befreit, was meines Erachtens dieses Jahr möglich ist, wird alles andere folgen“, sagte er kürzlich ukrainischen Medien.
Der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk sagte der Berliner Zeitung: „Für uns Ukrainer ist eins klar: ohne die Befreiung der Krim wird es keinen langfristigen Frieden in Europa geben. Unsere Streitkräfte sind in der Lage, russische Besatzungstruppen aus der Halbinsel noch 2023 zu verjagen.“ Weder die Bundesregierung, noch die deutsche Öffentlichkeit sollten „vor dem Szenario Angst haben, dass Putin dann unbedingt Atomwaffen einsetzt“, so Melnyk. Der frühere ukrainische Botschafter sagte weiters: „Leider hemmt diese zynische Einschüchterung des Kreml Entscheidungsträger in vielen Ländern. Je schneller es unserer Armee gelingt, die Krim zurückzuerobern, desto schneller kann auch dieser Angriffskrieg beendet werden. Wir hoffen, dass unsere Hauptverbündete, vor allem die USA und Deutschland, uns dabei voll und ganz unterstützen werden.“
Die New York Times berichtete im Januar, dass sich die Stimmung in der Regierung von Joe Biden zugunsten einer Krim-Front gedreht habe. In einem aktuellen Beitrag warnt die New York Times davor, dass ein langer Krieg verheerende wirtschaftliche Folgen für die Weltwirtschaft hätte. Vor allem aber wäre ein langer Krieg sehr teuer für die USA, so die New York Times, die die Kriege in Irak und Afghanistan als abschreckende Beispiele für explodierende Kosten anführt. Das Fazit der Times: „Die Anerkennung der wahren Kosten des Krieges – und der Vorteile des Friedens – bedeutet nicht, dass wir unseren Kampfeswillen verlieren. Im Gegenteil, eine ehrliche Abrechnung darüber, was Krieg ist und was er kostet, ist für den langfristigen Sieg unerlässlich.“
Foreign Policy schreibt, in den vergangenen Monaten sei eine militärische Operation gegen die Krim „auf dem Radar der US-Regierung als möglicher Weg aufgetaucht, um den Krieg in diesem Sommer zu beenden und Russland einen Zermürbungskrieg zu verweigern“. In Washington gäbe es Bedenken, dass es schwierig sein könnte, die öffentliche Unterstützung für die ukrainische Sache aufrechtzuerhalten, wenn sich herausstellte, dass es in diesem Krieg keine Perspektive für einen Sieg der Ukraine gäbe. Dieses Problem wird auch in Kiew klar gesehen: „Die größte Gefahr für die Ukraine ist, dass der Westen das Interesse verliert“, sagte Philipp Eder, Leiter der Abteilung Militärstrategie beim österreichischen Bundesheer, der Berliner Zeitung.
Bisher war die Drohung mit der nuklearen Option der Hauptgrund, warum der Versuch einer Rückeroberung der Krim in der öffentlichen Debatte im Westen als Tabu behandelt wurde. Russland hat die Problematik immer wieder ins Gespräch gebracht. Zuletzt hatte Präsident Wladimir Putin angekündigt, Russland wolle aus der nuklearen Rüstungsbegrenzung aussteigen, um Atomwaffen testen zu können. Tatsächlich gilt die Variante als gefährlich, wenngleich es auch Stimmen gibt, die sagen, Russland würde taktische Atomwaffen in Europa nicht einsetzen. Russland hat auch immer wieder betont, keinesfalls einen Erstschlag zu wollen – wenngleich dies laut neuer russischer Militärdoktrin möglich wäre.
Brigadier Philipp Eder sagt: „Rein militärisch gesehen würde eine Angriff in Richtung Krim Sinn machen, aber unter Inkaufnahme hoher Risiken.“ Die Ukraine wolle das auch in irgendeiner Form: „Und die Russen wissen das: Sie bereiten sich darauf vor, indem sie die Verteidigungsstellungen nördlich und auf der Krim verstärken“, so Eder. Eine Aktion gegen die Krim könnte auch erfolgen, weil die Russen nicht wirklich erfolgreich operieren, so Eder: „Die Russen haben offenbar immer noch große Personalprobleme.“ Die Anschläge gegen die Brücke von Kersch und gegen zwei Flughäfen könnten in diesem Zusammenhang „als Schritte gesehen werden, um das Gefechtsfeld aufzubereiten“.
Die Ukrainer könnten mit der Krim eine neue Front aufmachen und die russischen Kräfte dort binden. Allerdings wäre der Schritt nicht unproblematisch, meint Eder: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj „könnte ein innenpolitisches Problem bekommen, weil die Ukrainer nach Massakern wie in Butscha erwarten, dass die ukrainische Armee jedes Dorf verteidigt und nicht die Zivilbevölkerung der Gefahr von Kriegsverbrechen aussetzt“.
Es gibt allerdings noch ein weiteres Problem: Niemand kann sagen, wie weit die Bevölkerung auf der Krim sich bereits zu Russland zugehörig fühlt. Dies könnte die Ukraine zu unwillkommenen Besatzern werden lassen, obwohl die Krim völkerrechtlich eindeutig zur Ukraine gehört. Foreign Policy warnt auch davor, dass Kiew in diesem Fall seine moralische Legitimation verlieren könnte. Aufgrund der einzigartigen Geschichte und Demografie der Krim fragen sich demnach viele Beobachter, ob ihr Status letztendlich nicht durch militärische Kämpfe, sondern durch Diplomatie gelöst werden sollte. Unbestritten sei jedoch, so das Magazin, dass „es für Russland viel teurer werden muss, die Krim zu halten“.