Kramatorsk vor dem Sturm: Warten auf die russische Frühjahrsoffensive
Die Stadt im Donbass hatte vor dem russischen Angriff am 24. Februar 2022 rund 170.000 Einwohner. Die wenigen, die geblieben sind, rechnen mit dem Schlimmsten.

Ein verendeter Hund liegt auf der Straße zwischen den Nachbarstädten Slowjansk und Kramatorsk. Das Tier hat sich zum Sterben an den Straßenrand geschleppt. Niemand hat sich die Mühe gemacht, den Kadaver zu entfernen. Es sind fast nur gepanzerte Fahrzeuge und Transporter mit ukrainischen Soldaten auf der Verbindungsroute zwischen den beiden Großstädten unterwegs. Das heftig umkämpfte Bachmut liegt gerade 35 Kilometer Luftlinie von Kramatorsk und Slowjansk entfernt. Beobachtern fallen keine beschönigenden Worte ein, um das Grauen von Bachmut zu beschreiben. Sie sprechen vom „Fleischwolf“. Hunderte ukrainische und russische Soldaten fallen jeden Tag im Kampf um die Stadt. Leichen sollen auf den Straßen verwesen. Vielleicht ist es am äußeren Rand dieser Hölle zu viel verlangt, dass jemand Erbarmen zeigt mit einem toten Hund.
Der Weg in die Großstadt Kramatorsk führt an den Trümmern einer Lagerhalle vorbei in die weitgehend unversehrt wirkende Stadt. Sie zählte vor dem Krieg circa 170. 000 Einwohner. Jetzt sollen dort noch 70.000 Menschen ausharren. 5000 Kinder sollen sich darunter befinden. Russische Panzer und Haubitzen feuern pausenlos Mörser entlang der Front ab. Aber der tödliche Munitionsregen reicht nicht bis Kramatorsk. Die Russen müssen Raketen einsetzen, um Ziele in der Stadt zu treffen. Sie feuern ihre Geschosse mal auf eine Fabrik ab oder wie Mitte Februar auf ein Krankenhaus. Hier und da klafft eine Lücke in den heilen Straßenzügen wie ein gezogener Zahn in einem sonst intakten Gebiss.
Eine Rakete explodierte am 8. April 2022 vor dem Bahnhof in Kramatorsk. Tausende Metallsplitter trafen scharf wie Messer eine Menge von Flüchtlinge, die dem Krieg entkommen wollen. 58 Menschen starben. Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warf Russland in einem jüngst veröffentlichten Bericht den Einsatz von verbotener Streumunition gegen ein ziviles Ziel vor. Sie wertet den Angriff auf den Bahnhof als Kriegsverbrechen.
Die Schaufenster von Restaurants, Cafés und Geschäften in Kramatorsk sind mit Spanholzplatten vernagelt. Sie sollen die Druckwellen dämpfen, die jederzeit durch die Straßen fegen können. Kaum jemand ist auf den Gehwegen zu sehen, der keine Uniform trägt. Zivilisten fallen auf. Sie sind meist alt und wirken müde.

Noch ist Kramatorsk kein Trümmerfeld
Aber Kramatorsk existiert noch als Stadt. Es ist kein nach Verwesung stinkendes Trümmerfeld wie das nur einige Dutzend Kilometer südlich gelegene Bachmut. Manche fürchten: noch nicht.
Das Gemeindezentrum „Stare Misto“ der Pfingstbewegung in Kramatorsk befindet sich in einem schmucklosen Bürogebäude in der Innenstadt. Die Tür der kirchlichen Einrichtung öffnet sich und ein Mann tritt mit leichenblassem Gesicht und eingefrorener Miene hinaus an die frische Luft. Er zündet sich stumm eine Zigarette an. Der Mann wirkt, als hätte er dem Tod in die Augen gesehen und so war es wohl auch. Er ist an diesem Tag wie alle in der provisorischen Flüchtlingsaufnahmestelle von humanitären Helfern aus Bachmut oder anderen Orten entlang der Front in Sicherheit gebracht worden.
Der Pastoralreferent Evgeny Pavenko empfängt in dem mit Matratzen und Kissen ausgelegten Aufenthaltsraum des Gemeindezentrums. Der Kirchenchor habe hier vor dem Krieg geprobt, erklärt Pavenko. Die Gemeinde hat quietschbunte Luftballons in dem Saal aufgehängt. Die Dekoration soll den Evakuierten aus Bachmut und anderen Höllenlöchern entlang der Front das Gefühl geben, willkommen zu sein, erklärt Pavenko. Trotzdem hängt Verzweiflung in der Luft. Männer und Frauen liegen regungslos auf den Matratzen. Einige schlafen tief, als hätten sie schon lange kein Auge mehr zugedrückt. Andere starren an die Decke. Ihr Blick geht ins Leere.
Die Geflüchteten schweigen, als hätten die Erlebnisse vor der Flucht ihre Lippen verklebt. Die Frage, ob sie etwas erzählen möchten, quittieren viele mit einem kraftlosen Kopfschütteln. Mariia Verenkova, die eigentlich anders heißt, sitzt an einem Tisch und stützt ihren Kopf auf ihrem Arm ab. Ihre Augen sind rot gerändert. Auch sie bittet zunächst darum, nicht gestört zu werden. Dann greift sie aber doch zu ihrem Smartphone und öffnet ihre Fotogalerie.
In der Hölle von Bachmut: Sie rannten um ihr Leben
Ein Bild zeigt die eingedrückte Fassade eines Backsteinhauses. Vom Garten vor dem Haus ist nur noch ein Rasenfetzen übrig. Der Rest ist in einem Bombenkrater verschwunden. „Wir haben 32 Jahre lang in diesem Haus gewohnt und seit gestern existiert es nicht mehr“, sagt die 61-Jährige.
Es ist kaum 24 Stunden her, da rannten Verenkova und ihre Familie in Bachmut um ihr Leben. Erst explodierte eine Bombe in ihrem Garten, dann liefen sie durch die zerstörten Straßen zum Haus von Bekannten. „Die Geschosse flogen über unseren Kopf. Wir wussten gar nicht mehr, wer auf uns schießt. Der Beschuss kam von allen Seiten“, sagt die Ukrainerin.
Die Familie harrte die Nacht bei Freunden aus. Dann wagte sie sich erneut in den Bombenhagel und schlug sich zum Treffpunkt für Evakuierungsfahrten aus der Stadt durch. Jetzt wartet die Familie darauf, mit dem Zug Kramatorsk in Richtung der nordöstlichen Millionenstadt Charkiw zu verlassen. Dort gebe es Verwandte. Verenkova starrt auf zwei blaue Plastikkoffer. „Es ist schon erstaunlich, dass alles, was einem vom Leben geblieben ist, in zwei Taschen passt“, sagt sie.
Eine Seniorin will dann auch noch ihre Geschichte erzählen. Sie ist am gestrigen Tag aus dem im Herbst von den ukrainischen Streitkräften befreiten Lyman nach Kramatorsk geflohen. Sie habe den Winter in einem Haus mit zersprungenen Fenstern und zerschossenem Dach überlebt, erzählt sie. „Es gab keinen Strom, keine Heizung und Essen nur von den Hilfsorganisationen“, sagt sie. Trotzdem wäre sie geblieben, jetzt wo die schlimmste Winterkälte sich Ende Februar dem Ende nähert. „Ich bin 81 Jahre alt. Mein Mann ist in Lyman begraben“, sagt sie.
Doch sie habe einen Enkel bei der Armee, der seine Großmutter über alles liebe. „Er hat mich förmlich gezwungen zu gehen. Er meinte, es würde bald etwas Schlimmes passieren und ich sei in Lebensgefahr“, sagt sie.
In Kramatorsk erwarten alle eine russische Frühlingsoffensive
Warnungen wie die des um seine Großmutter besorgten Soldaten äußern viele in Kramatorsk. Alle erwarten die russische Frühlingsoffensive. Die Einwohner der Stadt bekommen ständig neue Zeichen vom Himmel geschickt, dass die Gefahr näher rückt. Die Sirenen machen nur kurz Pause. Der gellende Ton liegt wie eine atmosphärische Störung in der Luft.
Auf dem Weg zum Sem’ya Supermarkt im Zentrum übertönt ein dumpfer Knall das Schrillen der Sirenen. Eine Rakete hat irgendwo ein Ziel getroffen.

Swetlana Samilyk und ihr Partner Dmitry Tsymbal eilen mit Einkaufstüten von den Kassen weg. „Es ist erschreckend“, sagt Samilyk. Sie und ihr Partner überlegten, in die Stadt Tscherkassy in der Zentralukraine zu fliehen. „Aber da erwartet uns nichts und wir haben vier Katzen hier“, sagt sie. Ihr Lebensgefährte glaubt, dass die ukrainische Armee Bachmut halten könne, oder er hofft es vielmehr. Sollte die Stadt fallen, wiederhole sich das Grauen vor ihrer eigenen Haustür, sagt Tsymbal. Seine Freundin schüttelt den Kopf. „Unsere Soldaten sind keine Roboter. Die halten das nicht mehr lange durch“, sagt sie.
Wer mit der Verwaltung von Kramatorsk spricht, bekommt erstaunlich unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie schlimm es um die Großstadt steht. Bürgermeister Oleksandr Honcharenko und seine Mitarbeiter haben sich über verschiedene Bunker in der Stadt verteilt. Der Weg zur lokalen Macht führt über eine Treppe tief in den Untergrund. Ihor Yeskov, der Sprecher der Verwaltung, entschuldigt sich, dass der Bürgermeister aufgehalten worden sei. Yeskov setzt sich mit ernster Miene an den Konferenztisch im Besprechungsraum des Bunkers. Ebenso düster ist das Bild, das er zeichnet.
Sollte Bachmut fallen, rücke die Großstadt in die Reichweite der russischen Artillerie. Die Russen könnten dann Tod und Zerstörung vom Himmel regnen lassen. „Es braucht nicht viele Treffer, um Strom, Heizung und Wasserversorgung auszuschalten“, sagt er.
Schon einmal im Sommer ist es den Russen gelungen, Kramatorsk vom Gasnetz zu nehmen. „Sie standen damals bei Lyman im Norden. Sie haben uns das Gas aus der Region Charkiw abgedreht“, sagt Yeskov. Die ukrainische Armee eroberte Lyman und die ganze Region um die Millionenstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine im September zurück. Das sei auch für seine Stadt ein Wunder gewesen. „Wir hatten schon alle Bewohner gewarnt, dass sie sich in Lebensgefahr bringen, wenn sie im Winter ohne Heizung hierbleiben. Und dann floss das Gas plötzlich wieder“, sagt er.
Die Temperaturen seien in den kommenden Wochen noch niedrig genug, um Menschen in ihren Wohnungen erfrieren zu lassen. Ähnliches geschah im vergangenen März in Mariupol. Dort sollen mehr Menschen während der Belagerung durch die Russen durch die Kälte als durch Beschuss ums Leben gekommen. „Ich glaube nicht, dass es in Kramatorsk so schlimm wird wie in Mariupol. Oder ich weigere mich vielmehr, es zu glauben“, sagt Yeskov.
Der Sprecher hat keine Zweifel, dass die Russen um Kramatorsk und das benachbarte Slowjansk mit allen Mitteln kämpfen werden. Sie wären nach dem Fall von Bachmut die letzten Großstädte im von Russland beanspruchten Donbass, die noch von der Ukraine kontrolliert werden. „Ihrer Sicht der Dinge nach gehört das allen ihnen und wir sind die Besatzer“, sagt Yeskov.
Die Geografie könnte den Russen nach einer Eroberung Bachmuts auf dem Weg nach Kramatorsk in die Hände spielen. „Es gibt keinen Fluss oder irgendeine natürliche Barriere zwischen Bachmut und Kramatorsk, nur flaches Land und Verbindungsstraßen“, sagt er. Die ukrainischen Verteidiger hätten sich im Winter rund um die Stadt eingegraben. Aber die russischen Panzer könnten noch eine Weile auf dem gefrorenen Boden rollen, fürchtet der Sprecher. Die Rasputiza genannte Regenzeit wird dann im Frühling den Osten der Ukraine in eine einzige Schlammpfütze verwandeln.
Wo wird die russische Armee die Haubitzen aufstellen?
Bürgermeister Oleksandr Honcharenko betritt den Besprechungsraum mit einem gewinnenden Lächeln. Er stellt die Lage ganz anders dar als sein besorgter Mitarbeiter. Nein, sollte Bachmut fallen, dann rücke Kramatorsk nicht gleich in die Reichweite der russischen Artillerie, sagt er. „Die Russen werden ihre Haubitzen ja nicht genau gegenüber den unsrigen aufstellen, sondern irgendwo hinter der Front. Dann verfehlen sie uns immer noch um ein paar Kilometer“, sagt der Bürgermeister.

Honcharenko hat in der Schweiz studiert und spricht fließend Deutsch. Sein Sprecher kann nicht verstehen, dass sein Chef ihm gerade widerspricht. Es bleibt zumindest festzuhalten, dass die Stadtregierung die Bedrohung Kramatorsks derzeit unterschiedlich bewertet.
Mit der Nacht senkt sich die Dunkelheit über Kramatorsk. Nur in wenigen Wohnungen in den Häuserblocks brennt Licht. Die Straßenbeleuchtung ist ausgeschaltet. Die internationale Hilfsorganisation „Base“ hat Quartier in einem Landhaus im Vorort Jasnohirka bezogen. Es ist so dunkel, dass nur eine Taschenlampe nach dem Aussteigen hilft, das Eingangstor zu finden. Nur in der Ferne blitzt der Himmel immer wieder auf. Dort liegt Bachmut.
Die deutsche Hilfsorganisation „Leave No One Behind“ (LNOB) war wesentlich am Aufbau der „Base“ beteiligt. Sie arbeitet mit dem in Berlin lebenden ukrainischen Filmemacher Anton Yaremchuk zusammen. Er brach einen Tag nach dem Beginn der russischen Invasion in Berlin auf, um seine Familie aus Kiew zu retten.
Yaremchuk evakuierte Eltern und Geschwister, blieb aber in der Ukraine. Seit dem Frühjahr fährt er gemeinsam mit dem Deutschen Patrick Münz von LNOB in die Orte, in denen sich der Donbass in eine Hölle verwandelt hat. Sie holten Zivilisten aus ihren Kellern und brachten sie nach Kramatorsk. Wer nicht fliehen wollte, den versorgten sie mit Lebensmitteln oder Medikamenten. Immer wieder fanden sie alte Menschen vor, die einsam in ihren Häusern verdurstet waren. Niemand hatte sie versorgt, nachdem der Rest der Familie geflohen war.
Die Helfer aus Dänemark, Deutschland und der Ukraine schneiden in der Küche Zwiebeln und Avocado für eine Guacamole. Nudeln kochen in einem Topf. Pilze dünsten in einer Pfanne für die Soße. Die Pläne der Helfer könnten auf den Magen schlagen. Sie warten auf die Erlaubnis, nach Bachmut zu fahren.
Lange sei es für die Organisation nicht schwer gewesen, an den Checkpoints der ukrainischen Armee vorbei in die umkämpfte Stadt zu fahren, erklärt die Helferin Frederike Drössler. Seit Mitte Februar prüft die ukrainische Armee aber genau, wer in das Kampfgebiet will. Die Erlaubnis werde oft spontan erteilt, je nach Lage in Bachmut. Die Helfer müssen sich auf Abruf bereithalten. Das zehrt an den Nerven.
„Wir wissen nicht, wie oft wir noch nach Bachmut fahren können. Vielleicht ist das letzte Mal“, sagt Drössler. Die Gefahr sei trotz ausgeklügelter Sicherheitskontrolle und Schutzausrüstung für jeden auf der Fahrt enorm. Die Fahrzeuge sind als humanitäre Transporte gekennzeichnet, können aber jederzeit ins Kreuzfeuer geraten.
Die Helfer haben sich eingerichtet in ihrer „Base“. Sie wirkt mit Holzofen und bunten Bettdecken wie ein Zufluchtsort. Anton Yaremchuk betont, dass sich die Helfer auf alle Szenarien vorbereiten, die sich aus einem möglichen Fall von Bachmut für ihr Quartier in Kramatorsk ergeben. „Wir planen langfristig“, sagt er. Der Krieg werde nicht bald enden, glaubt er. Menschen werden noch an vielen Orten in der Ostukraine in Bunkern ausharren, so wie sie es derzeit in Bachmut tun.
Draußen blitzt der Himmel wieder auf. Eine Rakete hat dieses Mal die Nachbarstadt Slowjansk getroffen.