Der Kampf um Bachmut: Wie sehen die Ukrainer die Lage? Wer gewinnt die Schlacht?
Berichte mehren sich, die Verteidigung Bachmuts sei nicht wichtig, sie erzeuge großes Leid. Was sagt die ukrainische Presse? Ein Überblick.

Auf den Titelseiten der meisten ukrainischen Nachrichtenseiten ist am Donnerstag kaum eine Geschichte zu finden, die nicht irgendwie vom russischen Angriffskrieg erzählt. In den meisten Fällen geht es um die erneuten russischen Raketenangriffe in der Nacht; dabei wurde 40 Prozent der Energieinfrastruktur der Ukraine schwer beschädigt und neun Zivilisten wurden getötet. Doch noch eine andere Geschichte ist überall präsent: die Schlacht um Bachmut, die Stadt im ostukrainischen Donezk, wo seit Sommer 2022 der längste Kampf des Krieges andauert. Berichte um diesen Kampf gehören zu den meist gelesenen Themen des Tages.
Grund dafür ist die immer wachsende Anzahl von Aussagen westlicher Partner, die öffentlich die Frage formulieren, wie lange die Ukraine ihre Verteidigungsposition für die Stadt, die vor dem 24. Februar 2022 70.000 Einwohner hatte, aufrechterhalten kann – oder besser gesagt: sollte. Inzwischen leben in der umkämpften Stadt nur 4000 Menschen, darunter noch 37 Kinder, berichtete die Militärverwaltung der Ukraine am 2. März. Donnerstag meinte der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Bachmut könnte innerhalb weniger Tage fallen; das müsste aber nicht unbedingt einen Wendepunkt im Krieg darstellen. Auch der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin findet, Bachmut sei für die Ukraine eher ein symbolisches als ein strategisch wichtiges Militärziel.
Der letzten Analyse der amerikanischen Denkfabrik Institute for the Study of War zufolge sei ein „taktischer Abzug“ der ukrainischen Streitkräfte von Bachmut schon im Gange. Das sei aber ein „Fake“, berichtet das staatliche Nachrichtenmedium Suspilne. Mit Verweis auf den Sprecher des östlichen Truppenverbands der ukrainischen Streitkräfte, Serhii Cherevaty, wird die Lage an der Front vorsichtig positiv dargestellt. „Wir halten Bachmut und können unsere Positionen dort noch mit allem Nötigen verteidigen“, so Cherevaty. Die Einschätzung der Nato, dass Bachmut innerhalb von wenigen Tagen fallen könnte, stelle lediglich dar, dass man die Situation in der Ukraine „nicht ganz verstanden hat“.
Ministerin: Dass Bachmut keine strategische Bedeutung für die Ukraine hat, ist russische Propaganda
Auch Positionen wie die von Lloyd Austin werden abgelehnt. Ein Text auf der Website des Senders TSN zitiert die Behauptung der stellvertretenden Verteidigungsministerin der Ukraine, Hanna Malyar, die sagt, dass die strategische Irrelevanz von Bachmut für die Ukraine eine von der russischen Propaganda erfundene Desinformation sei. Diese werde mit dem Ziel verbreitet, die ukrainische Gesellschaft und Streitkräfte zu demoralisieren, so Malyar.
In anderen ukrainischen Texten wird versucht, eine geschlossene Front in Kiew zu schildern. Der ukrainische Dienst des BBC versucht etwa, einen Bericht der Bild-Zeitung zu widerlegen, wonach Walerij Saluschnyj, Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, mit der Position des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der sich gegen einen Abzug aus Bachmut ausgesprochen hat, nicht einverstanden gewesen sei. Laut einer Quelle im ukrainischen Verteidigungsministerium soll Saluschnyj „niemals den Abzug der Truppen gefordert“ haben, so der Autor Oleh Tschernisch. Einem Streit mit Saluschnyj hat Selenskyj auch selbst widersprochen.
Andere Medien beschreiben allerdings ein anderes Bild der Situation an der Front. Für die Kyiv Independent berichtet der Autor Igor Kossov. Viele Soldaten seien nicht ausreichend vorbereitet oder sehen sich nicht unterstützt, was die Verteidigung von Bachmut betrifft. In seinem Text werden Soldaten beschrieben, die sagen, dass es den Russen oft gelingt, ukrainische Position stunden- oder tagelang zu bombardieren – ohne dass die Ukrainer zurückschlagen können. Der Mangel an schweren Waffen sei so extrem, dass veraltete und ungenaue Waffen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges eingesetzt werden müssen. Neue Rekruten werden manchmal nach nur zwei Wochen Waffenausbildung an die Front geschickt, es soll auch Einheiten geben, die seit Beginn des Kampfs um Bachmut bis zur Hälfte ihrer Einsatzkräfte verloren haben.
Soldaten an der Front: Russische Einnahme ist jetzt unvermeidlich
Offizielle Angaben dazu, wie viele ukrainische Streitkräfte bei Bachmut gestorben sind, gibt es nicht; auch die Zahlen zu den Verlusten unter den russischen Streitkräften unterscheiden sich in den ukrainischen Medien. Oft werden die Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums von Ende Dezember zitiert, demnach seien 10.000 russische Soldaten dort ums Leben gekommen. Suspilne zitiert einen Nato-Bericht, demnach fünfmal so viele russische wie ukrainische Soldaten in dem Kampf um Bachmut gestorben seien. Die Euromaidan Press zitiert den britischen Journalisten Dan Sabbagh, der getwittert hatte, zwischen 20.000 und 30.000 russische Soldaten seien in dem Kampf um Bachmut getötet worden. Das sollen ihm anonyme „westliche Behörden“ erzählt haben.
Die Situation in Bachmut ist offenbar so prekär, dass auch einige ukrainische Soldaten auf einen Abzug hoffen. „Wir sollten unsere Leute jetzt rausholen“, sagt ein Soldat namens Oleksandr im Text von Igor Kossov. „Wenn wir das nicht jetzt machen, wird es in den nächsten Wochen wirklich schlimm.“ In einer weiteren Reportage aus Donezk von der Autorin Asami Terajima für die Kyiv Independent erzählen Soldaten der 24. Mechanisierten Brigade, die bis vor kurzem an der Front bei Bachmut gekämpft haben, man dürfe die russische Armee nicht unterschätzen. „Russland erzielt nicht die Ergebnisse, die es behauptet, aber seine Taktik funktioniert noch“, sagt ein Zugführer namens Oleh. Er hält es für unvermeidlich, dass Russland schließlich die Stadt einnehmen wird.
Experte: Ein Abzug kann der Ukraine bei der aktiven Verteidigung helfen
Auch der ukrainische Militärexperte Dmytro Snegiryov hat am Sonntag in einer Nachrichtensendung des privaten Fernsehsenders Espreso.TV einen Abzug der ukrainischen Truppen befürwortet – allerdings nur bis zum anderen Ufer des Flusses Bachmutka. „Der Fluss wird eine natürliche Barriere für die russischen Truppen darstellen“, so Snegiryov. „Dies wird den ukrainischen Streitkräften helfen, die aktive Verteidigung zu organisieren.“ Die Lage in Bachmut schätzte er als „schwierig, aber nicht kritisch“ ein.
Andere Texte von der Front beschreiben die Lage in Bachmut etwas problematischer. In ihrer Reportage für die Nachrichtenseite Hromadske beschreibt Anastasia Stanko die Stadt als „eine Festung, die immer noch steht“. Auch sie hat mit Soldaten gesprochen, die erst mit wenig Militärerfahrung an die Front geschickt wurden. Aber sie kommen zu ganz anderen Schlüssen als die Streitkräfte, mit denen die Autoren der Kyiv Independent sprachen. „Die Lage verschlechtert sich, es besteht schon die Gefahr einer Einkreisung“, sagt der 24-jährige Soldat Zhenya. „Wenn wir uns aber zurückziehen, wird diese Welle der russischen ‚Freundschaft‘ einfach weiterrollen.“
Die Darstellung des Kampfgeists der Ukraine wird in einer aktuellen Videoreportage geschildert (siehe Link oben). Darin spricht der Videoreporter Koljan Pastenko mit Menschen, die sich immer noch weigern, Bachmut zu verlassen – wie etwa Maryna, eine Verkäuferin in einem Supermarkt. Sie sagt, sie sei geblieben, um noch bei ihrer 72-jährigen Mutter zu sein. „Ich kann mir nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben“, sagt sie. „Wofür lebt der Mensch – um zu fliehen? Und wovor? Man muss der Angst in die Augen sehen.“
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