Vergewaltigungen in der Ukraine: Die Waffe des Patriarchats

Aus der Ukraine häufen sich Berichte über sexualisierte Gewalt. Die UN spricht in Kiew jetzt erstmals auch über männliche Opfer. Was steckt dahinter?

Protest in Kiew, Mai 2022
Protest in Kiew, Mai 2022imago/Mykhaylo Palinchak

Berlin-Bosnien, Ruanda, Irak – sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe ist nicht neu, wird immer wieder auch systematisch eingesetzt. Doch welche Mechanismen ermöglichen diese spezielle Form der Folter? Und nutzen Augenzeugenberichte überhaupt der Strafverfolgung? Ein Gespräch mit der Osteuropa-Expertin Leandra Bias.

Anmerkung der Redaktion: In diesem Gespräch geht es um sexualisierte Gewalt. Der Text enthält dazu explizite Beispiele, einige Menschen könnten das als traumatisierend empfinden.

Frau Bias, was müsste zuerst abgeschafft werden: Krieg oder Patriarchat?

Das Patriarchat, denn das führt zum Krieg. Die patriarchale Gesellschaft glaubt, dass wir Probleme mit Gewalt und Waffen lösen können. Deshalb muss sie eine Armee rekrutieren.

Aus dem Krieg in der Ukraine mehren sich jetzt Berichte über Vergewaltigungen. Sexualisierte Gewalt wird als Waffe eingesetzt. Welche Motive gibt es für sexualisierte Gewalt im Krieg?

Oft denken die Menschen, dass sexualisierte Gewalt ein strategisches Ziel hat. Das ist aber meist nicht der Fall. Zwar war das beim Krieg in Bosnien-Herzegowina so, da wurde Vergewaltigung wirklich aus ethnisch-motivierten Gründen eingesetzt, um, und es tut mir leid für die Wortwahl, den Samen der eigenen Gruppe sozusagen in die Gebärmutter der feindlichen Gruppe einzusetzen. Feministinnen nennen das die Eroberung über den Uterus. Strategie kann also ein Motiv für sexualisierte Gewalt sein, es ist aber nicht das einzige.

Wie schätzen Sie das strategische Element in der Ukraine ein?

Das kann man zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig sagen. Aber die Berichte deuten auf eine Systematik hin. Diese ist eingebettet in das Narrativ der Entnazifizierung, wo es um die Auslöschung von Teilen der ukrainischen Bevölkerung geht. Vergewaltigung wird also dazu benutzt, die russische Ethnie durchzusetzen. Doch es gibt auch andere Berichte. In denen erkenne ich eher die Terrorisierung der Bevölkerung, da gibt es kein großes strategisches Ziel.

Was steckt dahinter, wenn keine Systematik erkennbar ist?

Wenn es zum Krieg kommt, braucht man eine militarisierte Männlichkeit. Das heißt nicht, dass diese nur auf Männer zutrifft. Sondern alle, die im Krieg sind, müssen eine spezifische Form der männlichen Identität entwickeln, die auf andere Menschen herabschaut. Dieser Blick ist sehr oft mit Verweiblichung konnotiert. Frauenhass ist endemisch in militärischen Strukturen. Vergewaltigung ist die völlige Zuspitzung dieses Weltbildes.

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swisspeace/Gian-Berno Fark
Zur Person
Leandra Bias ist feministische Politikwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Autoritarismus und Demokratie, Außenpolitik, Friedens- & Konfliktforschung sowie Russland und den Westbalkan.

Seit Frühling 2021 forscht sie an der Universität Basel und konzentriert sich dort auf den Rückschlag in multilateralen Institutionen und wie dieser internationale Normen der Gleichstellung attackiert. Darüber hinaus unterrichtete sie in Oxford, heute in Basel.

Neben Vergewaltigung, welche Formen sexualisierter Gewalt gibt es im Krieg?

Erzwungene Prostitution, genitale Verstümmelung, Sterilisation. Was völlig unterschätzt wird, ist erzwungene Nacktheit. Das passiert oft in Kriegsgefangenschaft und ist entwürdigend. In abgeschwächter Form passiert das an Check Points auf der Flucht.

Bei Männern wird bei Folter auch spezifisch auf die Genitalien abgezielt. Die gravierendste Form sexualisierter Gewalt ist aber erzwungener Inzest. Dass Söhne gezwungen werden, ihre Väter oder Geschwister zu vergewaltigen. Das alles wird oft nicht mitgedacht.

Das Dunkelfeld sexualisierter Gewalt ist ja schon ohne Krieg schwer einzuschätzen. Von wie vielen Betroffenen sprechen wir in Kriegsgebieten?

Sie sagen es, die Dunkelziffer ist enorm. Sexualisierte Gewalt kommt aber im Krieg immer und überall vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau, die von Mexico aus versucht, in die USA zu fliehen, Opfer sexualisierter Gewalt wird, ist beispielsweise bei 75 Prozent, in Libyen gar bis zu 89 Prozent.

Ist die Flucht also manchmal gefährlicher als der Krieg selbst?

Das würde ich so nicht sagen, die Gefahr ist auch bei einer Besatzung enorm. Aber man denkt oft an aktive Gefechte. Dabei steigt auch häusliche Gewalt bei Kriegsausbrüchen. Auch das müsste zu sexualisierter Gewalt gezählt werden.

Die UN-Resolution 1820 von 2008 „stellt fest, dass Vergewaltigung und andere Formen von sexualisierter Gewalt ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit […] darstellen können“. Ist es nun eins oder nicht?

Seit 1977 ist Vergewaltigung über die Genfer Konventionen klar als Kriegsverbrechen im humanitären Völkerrecht festgeschrieben. Dank den zwei Tribunalen nach Ruanda und Jugoslawien in den 90er-Jahren ist Vergewaltigung aber nicht mehr nur im Völkerrecht, sondern auch im internationalen Strafrecht verankert. Das spiegelte sich später auch in den Gründungsstatuten des internationalen Strafgerichtshofs. Vergewaltigung wird so zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn sie in Kriegen systematisch eingesetzt wird. Für die spätere Verfolgung ist aber die Systematik schwer nachweisbar.

Kann man davon ausgehen, dass sexualisierte Gewalt als Waffe von oben aus der militärischen Hierarchie angeordnet wird?

Genau diese Anordnung ist für die spätere Strafverfolgung sehr wichtig. Meistens wird es aber nicht von oben angeordnet, stattdessen einfach nicht unterbunden und zugelassen.

Sexualisierte Gewalt ist also Nebenprodukt des Krieges?

Ja, genau.

Im Krieg geht es um Dominanz, die Unterdrückung der feindlichen Gruppe.

Leandra Bias

Sie haben den endemischen Frauenhass im Militär erwähnt. Welche gesellschaftlichen Muster ermöglichen, dass sexualisierte Gewalt als Waffe wirken kann?

Da kommen wir zurück aufs Patriarchat. Die Vormachtstellung einer ganz spezifischen Form von Männlichkeit kann nur funktionieren, wenn es ein untergeordnetes Gegenüber gibt. Das sind dann alle anderen Formen von Männlichkeit, Weiblichkeit und allgemein abweichende Ausdrücke von Geschlecht. Ständig muss die eigene Machtstellung neu demonstriert werden, um Anerkennung zu bekommen. Im Krieg geht es dann weiter um Dominanz, die Unterdrückung der feindlichen Gruppe. In Militärakademien gibt es erwiesenen Frauen- und Schwulenhass.

Wie drückt sich dieser Hass aus?

Etwa in den Kommentaren der Kameraden untereinander, dann wie mit Rekruten umgegangen wird. Ranghohe Armeeangehörige sprechen über Soldaten als „Weicheier“ oder „verweiblicht“, wenn sie Aufgaben nicht schaffen. Und die Forschung belegt, dass immer wieder frauenfeindliche Begriffe genutzt werden, um den Feind zu beschreiben.

Gibt es Kriege oder Kriegsformen, die spezielle Formen der sexualisierten Gewalt begünstigen?

Wie gesagt, diese Gewalt kommt überall vor. Bei ethnopolitischen Konflikten kommt es eher zu Vergewaltigungen, bei langer Kriegsgefangenschaft auch. Anfangs kommt es zu vergleichsweise harmlosen Formen der Gewalt, dann zu vereinzelten Vergewaltigungen, später Gruppenvergewaltigungen und Vergewaltigung mit Gegenständen. Im spezifischen Kontext der Gefangenschaft ist es, so brutal das klingt, auch Unterhaltung.

Unterhaltung?

Für die Soldaten sind diese Menschen ja keine Menschen mehr. Man kann das mit Kindern vergleichen, die es spannend finden, zu gucken, was mit einem Tier passiert, wenn man dem was antut.

Die Entmenschlichung ist also Voraussetzung.

Die Entmenschlichung ist sowieso Voraussetzung für politische Gewalt. In der Gefangenschaft gibt es die tagtäglich. Gefangene werden jeglicher menschlicher Würde entraubt.

Sexualisierte Gewalt wird auch begünstigt, wenn Zusammenhalt unter den Streitkräften fehlt. In der Ukraine ist das so, einige russische Soldaten wissen überhaupt nicht, was sie dort sollen. Gruppenvergewaltigungen werden dann zum Vehikel, um Zusammenhalt zu erreichen. Die Erniedrigung anderer schweißt zusammen.

Russische Soldaten sollen in der Ukraine auch Männer vergewaltigt haben. Männer werden als Opfer sexualisierter Gewalt, auch im Krieg, oft vergessen. Warum, glauben Sie, interessierte man sich lange nicht dafür?

Fast alle Errungenschaften für Frauenrechte erreichten wir durch eine Art Opferstatus. International finden Frauen meist nur Gehör, wenn sie sich als Opfer darstellen. Auch, weil sie unbestritten überproportional häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind.

Ein zentrales Element des Patriarchats ist aber die Dichotomie: Frauen als Opfer und Männer als Täter. Für die Verwundbarkeit von Männern ist kein Platz. Erst seit 2019 gibt es eine Resolution, die auch Männer als Überlebende sexualisierter Gewalt anerkennt. Dass die UN bei einer Pressekonferenz mit der ukrainischen Staatsanwältin nun auch Männer als Opfer offiziell erwähnte, ist ziemlich bahnbrechend.

Wie kann sexualisierte Gewalt als Kriegsmittel überhaupt richtig dokumentiert werden? Der Nachweis ist ja rechtlich meistens schwierig.

Die Frage ist, ob man dokumentiert, weil es strafrechtlich verfolgt werden oder weil es sensibilisieren soll. Human Rights Watch liefert aktuell Augenzeugenberichte, da geht es um Sensibilisierung, die Politik soll gewarnt werden. Für eine strafrechtliche Verfolgung setzt man häufig sogenannte Wahrheitsfindungskommissionen ein. Die sammeln konkrete Beweise.

Haben solche Kommissionen dann einen internationalen Auftrag?

International ist es oft schwierig, ein UN-Mandat zu bekommen. Aktuell in der Ukraine blockiert Russland das mit einem Veto. Deshalb wird jetzt ein neuer Mechanismus ausprobiert und eine Beratungsgruppe für Kriegsverbrechen eingesetzt, von der EU und den USA finanziert.

Was müsste sich politisch ändern, damit wir anders über sexualisierte Gewalt im Krieg sprechen?

Das, worauf wir hinarbeiten sollten, ist die Abschaffung des Patriarchats. So überspitzt das auch klingen mag. Da kommen wir auf die Eingangsfrage zurück. Aber das werden wir innerhalb eines Konflikts nicht erreichen, ganz im Gegenteil.

Die Rollen werden im Krieg eher retraditionalisiert, wir brauchen Helden, damit wir diesen Krieg aushalten und dadurch verfallen wir in alte Muster, die patriarchal sind. Wir müssen auf eine Gesellschaft hinarbeiten, wo man nicht willkürlich basierend auf dem Geschlecht in Rollen gezwängt wird. So utopisch das sein mag.

Die russische Strategie ist eingebettet in das Narrativ der Entnazifizierung, wo es um die Auslöschung von Teilen der ukrainischen Bevölkerung geht.

Leandra Bias

Sie sagen, die Veränderung muss weit vor dem Krieg beginnen. Nach Wochen des Krieges verurteilen nun einige Politiker und Politikerinnen sexualisierte Gewalt. Hat das aus Ihrer Sicht überhaupt eine Wirkung?

Natürlich macht es einen Unterschied, wenn Regierungschefs und -chefinnen sich äußern. Genau deshalb war die Aussage der UN bei der Pressekonferenz ja auch so wichtig. Aber es geht es ja nicht nur um die Verurteilung sexualisierter Gewalt, sondern viel mehr um konkrete Aktionen. Von ukrainischen Aktivistinnen habe ich gerade erst gehört, dass sie seit acht Jahren zwar Verurteilungen über die russischen Aktionen in der Ostukraine hören, in dieser Zeit aber viel lieber gehört hätten, dass die westlichen Staaten auf Waffenexporte nach Russland verzichtet hätten.

Es nützt also nichts, aus Berlin oder Genf zu verurteilen, dann bei Kriegsbeginn aber das Weite zu suchen, Kriegsverbrechen nicht zu dokumentieren und die Arbeit vor Ort anderen zu überlassen.

Vielen Dank für das Gespräch.


Das Gespräch führten Antonia Groß und Maxi Beigang.