Leitartikel: Die Anti-Wulffs im Bundestag

Der Unterschied zwischen einem Ministerpräsidenten und einem Bundestagsabgeordneten ist nicht allgemein bekannt. Wird einem Ministerpräsidenten – beispielsweise des Landes Niedersachsen – von einem alten Freund, einem guten Bekannten oder einem philanthropischen Geschäftsmann angeboten, seine nächste Urlaubsreise mit der Frau Gemahlin zu bezahlen, ein günstiges Darlehen zu beschaffen oder die Kosten für das Upgrade eines Ferienfluges zu berappen, dann geht ein Raunen durch das Land, ein Geraschel durch den Blätterwald und ein Wort von Mund zu Mund: Vorteilsannahme. Die Opposition beklagt einen Verstoß gegen das Ministergesetz, das unmissverständlich verbietet, amtsbezogene „Belohnungen und Geschenke“ anzunehmen, Staatsanwälte kündigen Vorermittlungsverfahren an, ganz zu schweigen vom aufgebrachten Publikum, das den lebensfrohen Landesvater mit sinkenden Sympathiewerten bestraft.

Der Preis fürs Gratis-Leben kann hoch sein

Im Klartext: Der Ministerpräsident macht die schmerzliche Erfahrung, wie hoch der Preis des Gratis-Lebens sein kann, vor allem, wenn er mittlerweile gar nicht mehr Minister-, sondern Bundespräsident und damit noch einmal verschärfter Kontrolle unterworfen ist.
Diese leidvolle Erfahrung bleibt Bundestagsabgeordneten traditionell erspart. Wer als deutscher Parlamentarier einen spendablen Freund hat, der ihm ein paar zehntausend Euro schenkt, muss keine Sanktion befürchten, schon gar nicht per Gesetz. Selbst wenn der Freund sein Geschenk mit der Bitte verbindet, bei Gelegenheit seine Interessen – als Unternehmer, als Filmproduzent, als Marmeladenhersteller oder ganz einfach als Millionär – zu bedenken und sich entsprechend in den zuständigen Gremien, Arbeitsgruppen und Gesprächsrunden für sie einzusetzen, droht weder dem Freund noch dem Abgeordneten ein Besuch des Staatsanwalts.

Strafbar ist nur der direkte Stimmenkauf

Denn es ist so in Deutschland: Strafbar als Abgeordnetenbestechung ist nur der direkte Stimmenkauf beziehungsweise -verkauf. Der Straftatbestand (108e Strafgesetzbuch) – erst 1994 eingeführt – ist derart eng gefasst, dass die Risiken eines Parlamentariers, deshalb verurteilt zu werden, so hoch sind wie die Aussichten Christian Wulffs, als ehrbarer Bundespräsident in die Geschichtsbücher einzugehen. Mit anderen Worten: Das deutsche Strafrecht bedroht korrupte Abgeordnete nicht mit Verfolgung, vielmehr schützt es sie vor Bestrafung.
Sie können nehmen, was und von wem sie wollen, sie können sich einladen und beschenken lassen, wohin und mit was auch immer, sie können ihre Unabhängigkeit, auf die sie das Grundgesetz verpflichtet, im Büro eines Konzernvorstands, im Hinterzimmer eines Mafiabosses oder am Gartenzaun zum Nachbarn abgeben, nie haben sie den Korruptionsverdacht zu fürchten, nie wird sich ein Staatsanwalt für sie interessieren, nie eine Zeitung, die ihr Geld und ihren Ruf nicht riskieren will, von Bestechung schreiben, stets dürfen selbst Abgeordnete, denen die Korruption aus dem Dreiteiler lugt, sich als das empfinden, was sie am wenigsten sind – als Anti-Wulffs.

Bundesrepublik macht sich zum Gespött

Das ist nicht nur ein nationales Ärgernis, die Bundesrepublik macht sich seit Jahren auch zum Gespött der internationalen Gemeinschaft. Zwar hat Deutschland – wie 150 andere Staaten – die Übereinkommen der Vereinten Nationen von 2003 und des Europarats von 1999 unterzeichnet, wonach Bestechung und Bestechlichkeit von Mandatsträgern und Abgeordneten konsequent unter Strafe zu stellen sind. Doch blieb es bei der Zeichnung, ratifiziert hat Deutschland bis heute beide Übereinkommen nicht, wie Syrien, Saudi-Arabien, Birma und Sudan. Eine Ratifizierung würde voraussetzen, dass Deutschland endlich den Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung internationalen Standards anpasst, also verschärft.
Das haben die Linken im Bundestag versucht und sind damit gescheitert. Die Grünen haben es versucht und sind ebenfalls gescheitert. Nun versuchen es die Sozialdemokraten, doch auch ihr zum Jahresbeginn vorgelegter Gesetzentwurf, der den Anwendungsbereich der Abgeordnetenbestechung angemessen erweitert, dürfte kaum die Union bewegen, ihren Widerstand endlich aufzugeben.
Zwar hat jüngst selbst Bundespräsident Norbert Lammert (CDU) seine Parteifreunde ermahnt, sich „nicht länger um eine Regelung herumzudrücken“, und auch der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) hat vor ein paar Tagen die Verschärfung der Abgeordnetenbestechung verlangt. Geholfen aber hat beides offensichtlich nicht.
Manifestiert sich hier die Angst vor dem Schicksal Christian Wulffs? Boshafte Naturen werden das vermuten. Aber nur naive Naturen werden ihnen widersprechen.