Leitartikel: Wächter des mörderischen Wahns

Warum erst jetzt? Diese Frage muss man unweigerlich stellen, wenn man sich den Fall des Hans Lipschis vor Augen führt. Der 93-Jährige wurde Anfang Mai in seinem Haus in einer schwäbischen Kleinstadt verhaftet. Er soll von Herbst 1941 bis zur Auflösung des Nazi-KZ Auschwitz-Birkenau im Januar 1945 zahlreiche Morde unterstützt haben. Der Fall des 1919 als Anastas Lipsys in Litauen geborenen KZ-Wächters, der bis heute behauptet, lediglich als Koch in Auschwitz gearbeitet zu haben, war keineswegs unbekannt. Der Ausweisung aus den USA, wohin er Anfang der 50-Jahre emigriert war, konnte er sich 1983 entziehen.

Eine unbefriedigende juristische Antwort auf die Warum-Frage gibt es. Zwar hatten Ludwigsburger Ermittler Lipschis Mitte der 80er-Jahre überprüft. Nach dem damaligem Rechtsverständnis war man jedoch zum Ergebnis gekommen, dass es nicht für ein Verfahren reicht. Man ging davon aus, dass eine Tat oder Tatbeteiligung konkret nachzuweisen sei. Diese Auffassung ändert sich erst, seit das Landgericht München den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk 2011 schuldig sprach, Beihilfe zum Mord in über tausend Fällen im Vernichtungslager Sobibor geleistet zu haben. Zwar konnte Demjanjuk keine Tat individuell zugeschrieben werden. Das Gericht ging bei seiner Verurteilung aber davon aus, dass er Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie war.

Es bleibt ein Unbehagen

Wie immer man die Lebensgeschichten von Männern wie Lipschis und Demjanjuk auch erzählen mag, es bleibt ein Unbehagen. Als mutmaßliche Täter waren sie zugleich auch Opfer einer nationalsozialistischen Rekrutierungspraxis, mit der in den besetzten Ostgebieten Hunderttausende von Helfern in den mörderischen Wahn hineinzogen wurden. Und nicht alle Helfergeschichten führten zwangsläufig in massenhafte Mordbeteiligungen.

In ihrem Buch über den jüdischen SS-Offizier Scherwitz, der im lettischen Riga Leiter des KZ-Außenlagers Lenta war, schildert die Berliner Historikerin Anita Kugler, wie kurios und widersprüchlich eine Biografie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Baltikum verlaufen konnte. Scherwitz wurde Ende der 40er-Jahre in Deutschland verhaftet und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Eine konkrete Tatbeteiligung konnte auch ihm nicht nachgewiesen werden. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass er als Leiter der Lenta, in der Luxusgüter für NS-Offiziere hergestellt wurden, der gute Mensch des Lagers war, der darum bemüht war, Schaden von den Lagerinsassen abzuwenden. Dass er, der Mann mit vier Geburtstagen, zwei Geburtsorten und zwei Staatsbürgerschaften, sich als gebürtiger Jude in Diensten der SS hocharbeitete und sich dennoch den Zwangsmechanismen der NS-Ideologie zu entziehen wusste, liest man, bisweilen ungläubig, als packenden Geschichtskrimi, der das Rechtsempfinden in Bezug auf die Verbrechen des Holocaust gehörig durcheinanderzubringen vermag. Es ist gewiss kein später Triumph unseres Rechtssystems, wenn nun die letzten greisen NS-Täter vor Gericht gestellt werden, die nicht zum engen planerischen Stab des nationalsozialistischen Mordens gehörten. Von Sühne kann angesichts der der langen Zeit, die die Geschehnisse zurückliegen, ohnehin kaum die Rede sein. Eher stellen sich Fragen, wie Menschen mit so großer Schuld und den erlittenen Traumata weiterleben konnten, ohne Zeugnis abzulegen.

Dramatische Geschichtsverläufe

Die Gerichte, die sich nun wohl noch einer Reihe von NS-Verbrechen widmen werden, sind nur bedingt in der Lage, der Schuld und dem Schicksal der Angeklagten gerecht zu werden. Doch ist es von großer gesellschaftlicher Bedeutung, dass die Fälle detailliert verhandelt werden. Jenseits der juristischen Beurteilung kommen dabei dramatische Geschichtsverläufe zutage, die im Licht neuer historischer Erkenntnisse jede Form von Schlussstrich-Mentalität für obsolet erklären. Es wird vielmehr deutlich, dass historische Wahrheit nicht zwangsläufig verblasst, je weiter man sich vom Zeitpunkt des Geschehens entfernt, sondern im Kontext neuer Fragestellungen auch geschärft werden kann.

Und es muss keineswegs nur die Justiz sein, die diese Aufgabe übernimmt. Als sei es eine Art Handbuch zu den aktuellen Fällen, ist im Fischer Verlag für den Herbst ein von dem Historiker Ernst Klee zusammengestelltes Personenlexikon angekündigt, das Auskunft gibt über 4000 Täter, Gehilfen und Opfer der Verbrechen von Auschwitz. Das historische und gesellschaftliche Wissen ist in den letzten Jahren enorm gewachsen, ohne dass diesem eine gesteigerte Aufmerksamkeit zugekommen wäre. Die Frage „Warum erst jetzt?“ sollte daher nicht nur an die Gerichte adressiert werden.