Leitartikel zu Schottland: Verloren und trotzdem gewonnen
Nach diesem Votum wird nichts mehr sein wie es war, nicht in Schottland, nicht in Großbritannien und vielleicht auch nicht in Europa. Mit der Abstimmung über die Unabhängigkeit hat Schottland sich verändert. Die Kampagne, ob sich das Land von Großbritannien abspalten soll, hat eine ebenso emotionale wie hochpolitische Debatte über die eigene Kultur, Politik und Identität entfacht. Jetzt, nach dem Ja zum Vereinigten Königreich, stehen die Schotten selbstbewusster da als zuvor. Sie haben sich, allen Briten und auch dem Kontinent gezeigt, dass es möglich ist, zugleich ernsthaft und anspruchsvoll, leidenschaftlich und doch fair miteinander über Politik zu streiten. Die Schotten haben bewiesen, dass Politik eine Sache aller ist, dass sie alle interessieren, ja begeistern kann – vorausgesetzt, die Menschen werden gefragt. Die hohe Wahlbeteiligung und der weise Ausgang sind ein Beleg für die Reife und Attraktivität von Demokratie und widersprechen allen, die über Politikmüdigkeit und Populismus lamentieren.
Mehr Rechte für Schottland
Es ist ja wahr: Alex Salmond und seine Yes-Kampagne haben eine nationalistische Frage gestellt. Nationalismus, Populismus und aggressive Abgrenzung vom Fremden verbünden sich fast immer, gehen Hand in Hand. Doch dieses Mal war es anders.
In Schottland haben die Nationalisten nicht gegen etwas argumentiert, sondern für etwas. Gestritten wurde um mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen Armen und Reichen, über ein großzügiges Einwanderungsrecht, über ein für alle zugängliches Gesundheits- und Bildungssystem, über ein atomwaffenfreies Schottland, über Ökostrom und die Verwendung von Steuergeldern.
Viele Schotten haben sich in der Debatte nicht gegen die Engländer generell, sondern gegen den Zentralismus Londons, gegen den Neoliberalismus der „City“ und die Dominanz der Eliten und des Westminster Establishments positioniert. Sie haben dem ihre Idee einer gerechteren demokratischen Gesellschaft entgegengesetzt. Auch viele, die nun Nein gesagt haben, wünschen sich ein anderes Schottland – und die meisten ein anderes Großbritannien.
Schon vor dem Wahltag sah sich der britische Premierminister David Cameron gezwungen, Schottland mehr Rechte und mehr Selbstständigkeit, kurz: mehr Macht zu versprechen. Gut möglich, dass dies zuletzt viele bewogen hat, mit Nein zu stimmen und das ökonomische Risiko der Unabhängigkeit nicht zu wagen. Cameron jedenfalls sichert es sein politisches Überleben. Die Verhandlungen über mehr Eigenständigkeit werden schnell beginnen. Die Yes-Kampagne kann sich also, obwohl sie verloren hat, als Gewinner betrachten. Viele ihrer Ziele wird sie, wenn sie klug verhandelt, erreichen.
Die Fragen aber, die die Schotten aufgeworfen haben, stellen sich jetzt auch viele Engländer, Waliser und Nordiren: Weshalb die Londoner Dominanz? Warum haben selbst Bürgermeister so wichtiger Städte wie Manchester oder Birmingham und warum haben ganze Regionen wie Yorkshire oder auch kleine Gemeinden kaum Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten? Warum gibt es kein Verhältniswahlrecht? Wäre ein föderales System – womöglich nach deutschem Vorbild – nicht gerechter?
Warum können Schotten und Waliser im Unterhaus über Belange in England mitbestimmen, England selbst hat aber kein Parlament? Ist das feudale Oberhaus, das keinerlei demokratische Legitimation besitzt, als politische Kammer noch zeitgemäß?
Großbritannien ist organisiert und wird regiert wie zu Zeiten, als es ein riesiges Kolonialreich war. Mit gleichberechtigtem Miteinander in einer modernen Gesellschaft sind seine Strukturen nicht vereinbar. Es sieht so aus, als würden die Schotten nun ganz Großbritannien zwingen, sich zu modernisieren.
Ein gutes Signal für Rest-Europa
Was die europäische Frage betrifft, so zeigt diese Wahl, dass der Wunsch nach mehr nationaler oder regionaler Identität nicht zwangsläufig einhergeht mit anti-europäischen Motiven, sondern auch ein Ruf nach Verteilungsgerechtigkeit ist. Regionale Identitäten müssen keine zentrifugale Kraft haben – vorausgesetzt die Gesellschaften halten sozial zusammen und die Regionen können da, wo es möglich ist, mehr selbst bestimmen.
Gerade die Schotten wollen in der EU bleiben und fürchten das Referendum über die EU-Mitgliedschaft, das Cameron für 2017 versprochen hat. Für Rest-Europa, das mit den Briten zusammenbleiben will und auf weniger statt mehr Grenzen hofft, ist das schottische No ein gutes Signal. Die wichtigsten Europa-Freunde der Inseln bleiben dabei. Und für Cameron und seine EU-Skeptiker könnte es ein Auftrag sein: Better together – das gilt auch für das Vereinigte Königreich und Europa.