Leitartikel zur Volkszählung: Rechne mit deinen Defekten

Wer sich noch an den Krach um die bundesrepublikanische Volkszählung von 1987 erinnert, der wundert sich darüber, wie ruhig der neue Zensus über die Bühne gegangen ist. Blickt er jetzt durch die Pressemappe des Statistischen Bundesamtes, stößt er immer wieder auf den Satz „Die im Zensus 2011 ermittelten Daten liegen nahe bei den Ergebnissen des Mikrozensus“.

Er fragt sich, ob der Aufwand eines Zensus angesichts dieser Ergebnisse überhaupt nötig ist. Aber die Wahrheit ist, man fühlt sich wohler nach einer Auszählung als bei einer Hochrechnung. Eine Wissensgesellschaft, die nicht Bescheid wissen will über sich, ist keine.

Was wissen wir jetzt? 42 Prozent der Deutschen sind älter als fünfzig. Die von ihnen, die im Westen der Republik aufwuchsen, können sich also – so sie es nicht vorziehen die lächerlichen Seiten ihrer Entwicklung zu vergessen – sehr gut an ihre Ängste oder die ihrer Freunde und Kollegen erinnern.

Zum Beispiel die Angst vor den vielen Ausländern. Sie begleitet die Geschichte der Bundesrepublik. Die Wahrheit ist, darüber klärt der Zensus auch auf, dass ohne die Ausländer die deutsche Erwerbsbevölkerung inzwischen weit unter 50 Prozent läge. Die Sozialsysteme wären längst zusammengebrochen. Heute haben 18,9 Prozent der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. In Offenbach bei Frankfurt am Main sind es 48,9 Prozent. In keinem der östlichen Bundesländer mehr als fünf Prozent.

Das alles lernen wir aus dem Zensus und wenn wir schlau sind, werden wir die nächsten Tage noch weiter in dem Material blättern und uns klarzuwerden versuchen, warum wir zwar weniger Menschen sind, aber mehr Wohnungen haben als das Statistische Bundesamt anhand der alten Daten berechnet hatte.

Die Zahlen sind nur ein Anfang. Man muss sie lesen lernen und man muss wissen, was man mit ihnen will. Zum Beispiel der „Migrationshintergrund“. Ich finde es richtig, danach zu fragen. Es sagt mir etwas über das Land, in dem ich lebe, wenn ich weiß, woher seine Menschen kommen. Fatal wird die Sache, wenn Leute anfangen, die Bürger dieses Landes einzuteilen in solche von guter und schlechter Herkunft. „Gut“ und „schlecht“ sind deren Zutat. Das steht nicht in der Statistik.

Als in Deutschland fast nur noch durch einen Ahnenpass beglaubigte Deutsche lebten, da überfielen die Deutschen den Rest Europas und ruinierten erst den Kontinent und dann das eigene Land. Und in diesem Prozess sich gleich mit. Wir haben wirklich keinen Grund, daran zu glauben, uns ginge es mit weniger Ausländern besser. Das sind Gedanken, die einem beim Gang durch den Zensus kommen, der ja nicht viel mehr ermittelt hat als Alter, Herkunft, Ausbildung und religiöse Überzeugung der Bevölkerung und ein paar Daten für den Wohnungsbau.

Dieser Zensus hat EU-weit stattgefunden. Man wird in nächster Zeit die Zahlen vergleichen können. Wenn auch dort nur die Hälfte der Menschen erwerbstätig ist, wird es mit dem europäischen Sozialstaat zu Ende gehen. Ganz unabhängig von dem politischen Willen dieser oder jener Regierung. Diese Zahl sagt uns, dass wir nicht so weiter machen können wie bisher. Blickt man genauer hin, verschärft sich die Lage. Dann sieht man, dass mehr als zehn Prozent der Männer über 65 noch erwerbstätig sind. Das zeigt, wie sehr die Erwerbsstruktur der Bevölkerung ins Rutschen gekommen ist.

Man könnte den Zensus nehmen und sich die Programme der Parteien ansehen um herauszufinden, wie sie die Lage der Bundesrepublik sehen. Schließlich haben wir Wahljahr. Aber die Politik zeigt seit Jahren, wie sie sich dagegen wehrt, die Zahlen, die sie selbst erheben lässt, zur Kenntnis zu nehmen. Sie öffnet die Briefe mit den Rechnungen einfach nicht. Wir sollten das tun. Vielleicht finden wir ja doch noch Wege, mit diesen Problemen, die seit Jahren nur wachsen, fertig zu werden.

Noch nicht veröffentlicht, aber bereits erhoben sind die Daten zur Berufsstruktur. Wir werden sehen, dass Deutschland in den verschiedensten Bereichen ganz erhebliche Lücken hat. Wir sind gespannt auf diese Zahlen. Fehlen uns weiter Ingenieure, technische Facharbeiter? Wie sieht es in den Naturwissenschaften aus? Es ist wichtig, dass wir diese Zahlen haben. Es ist aber völlig überflüssig, dass wir sie haben, wenn wir sie nicht nutzen, um unsere Probleme zu lösen.

Dazu ist der Zensus da. Er ist keine Spielwiese für Liebhaber der Statistik. Er ist auch nicht Lieferant für Songtexte, an der kulturkritischen Klagemauer zu singen. „1. Erkenne die Lage. 2. Rechne mit deinen Defekten“, schrieb der Dichter Gottfried Benn.