Leitartikel zur Wulff-Affäre: Wulff: Amt ohne Autorität

Nein, er hat gar nicht an Rücktritt gedacht. Wo kämen wir denn da hin? Man, wie Christian Wulff sagt, wenn er sich meint, ist ja schließlich für fünf Jahre gewählt. Komme was da wolle. Ein bisschen Demut und ganz schön viel Trotz, so hat sich der Bundespräsident am Mittwochabend dem Publikum präsentiert. Nachdem es gar nicht mehr anders ging. Wieder einmal.

Die Schöpfer des Grundgesetzes haben in ihrer Weisheit vieles für möglich gehalten. Auch, dass ein Bundespräsident zum Gesetzesbrecher wird und doch partout nicht aus dem Amt weichen will. Für diesen Fall haben sie die Präsidentenanklage vor dem Bundesverfassungsgericht durch das Parlament vorgesehen. Das Gericht kann das Staatsoberhaupt dann im Falle eines Schuldspruchs des Amtes für verlustig erklären, wie es der Artikel 61 in schönstem Verfassungsdeutsch bestimmt.


Zugegeben, daran gemessen sieht die Causa Wulff fast harmlos aus. Zwar will auch er partout im Amt bleiben, und es gibt praktisch keinen politisch-parlamentarischen Weg, ihn daran zu hindern. In dieser Hinsicht ist die Position des Bundespräsidenten überaus stark. Das wissen auch seine nicht mehr ganz so dicken Freunde Angela Merkel und Horst Seehofer und stellen sich nun doch lieber hinter als gegen ihn. Aber die heftigste Kritik an ihm richtet sich auch nicht gegen Gesetzesbrüche, obwohl seine Anrufe im Springer-Verlag einer Verletzung des Grundrechts auf Pressefreiheit nahegekommen sind. Das sieht sogar Christian Wulff ein.

Es geht in der Hauptsache um Format, um Haltung. Und darum, ob der Mangel daran Christian Wulff hindert, sein Amt so gewissenhaft und kraftvoll auszuüben, wie er es bei seinem letzten öffentlichen Auftritt im Schloss Bellevue versprochen hat. Dass er das noch kann, erscheint fast ausgeschlossen, auch nach diesem Fernsehinterview. Ein Befreiungsschlag war das jedenfalls nicht.


Nach dem Missbrauch staatlicher Autorität, ihrer Rituale und Zeremonien durch das nationalsozialistische Regime haben die Gründer der Bundesrepublik den neuen Staat mit flachen Hierarchien und schlichtem protokollarischen Zierrat ausgestattet. Der Republik ist das gut bekommen. Man stellt dem Bundespräsidenten zwar ein kleines Schloss als Kulisse für sein repräsentatives Wirken zur Verfügung. Aber das ist es dann auch schon. Das Amt des deutschen Staatsoberhauptes ist – bis auf die Altersversorgung – schlicht ausgestattet. Umso größer ist die Herausforderung für seinen jeweiligen Inhaber. Er darf gerade nicht schlicht sein, und das erweist sich nun als größtes Problem für Christian Wulff, besser: für die Bundesrepublik.

Gewiss kann man darüber streiten, ob es eines solchen Staatsoberhauptes überhaupt noch bedarf. Doch das Bedürfnis nach wenigstens einer Person, die über den Alltagsstreit der Parteien und die Einzelinteressen der verschiedenen Gruppen hinaus eine gesellschaftliche Identität verkörpert, die Orientierung und im besten Falle auch Halt vermitteln kann, haben schon die Autoren des Grundgesetzes erkannt. Dieses Bedürfnis ist heute, in einer viel unübersichtlicheren Welt und einer viel zerklüfteteren Gesellschaft umso größer.

Es geht nicht um eine Person mit übermenschlichen Qualitäten, keinen neuen Kaiser und keinen starken Mann. Es geht um eine Persönlichkeit mit eigener Autorität, die sich nicht hinter irgendeiner sogenannten Würde des Amtes verschanzt, sondern dem Amt die Würde der eigenen Person gibt. Und daran mangelt es Wulff.


Sein Thema müsste, wie er selber sagt, die Glaubwürdigkeit sein, mit der die Politik an die Lösung unserer Probleme geht. Die Transparenz, mit der sie agiert oder eben auch nicht. Der Zusammenhalt einer Gesellschaft, die immer stärker auseinanderdriftet. Wie aber soll das einer tun, der seine eigene Glaubwürdigkeit so beschädigt hat? Der von Transparenz redet, aber verschleiert und verschwiegen hat? Dem das private Schnäppchen wichtiger war als die Distanz zu fragwürdigen Beziehungen?

Und was passierte eigentlich, wenn Deutschland einmal von einer nationalen Katastrophe getroffen würde; von einem verheerenden Unfall in einem Atomkraftwerk wie in Japan oder von den Taten eines Massenmörders wie in Norwegen, Ereignisse, die an den Nerv einer Gesellschaft gehen? Wäre Christian Wulff derjenige, auf dessen Worte man dann warten würde? Der die richtigen Sätze und die richtige Haltung fände, um die Nation zusammenzuführen und aufzurichten, der die Autorität des Staates wahren könnte?

Das wäre die Aufgabe eines guten Bundespräsidenten. Aber dazu bedarf es mehr, als sich an das Amt zu klammern. Er bleibt nun wohl unser Präsident. Erst einmal. Aber seiner Autorität ist er verlustig gegangen.