Neuer Linken-Chef Schirdewan: Partei und Fraktion müssen sich enger abstimmen
Der Europaabgeordnete erklärt, warum er froh ist, nicht der Bundestagsfraktion anzugehören – und ob die Partei noch zu retten ist.

Das Interview mit dem neuen Co-Vorsitzenden der Linken findet per Zoom statt. Martin Schirdewan ist auf die Minute pünktlich, wirkt aber etwas müde. Im Hintergrund scheint die Sonne gleißend in ein Hotelzimmer.
Wo sind Sie gerade, Herr Schirdewan? In Berlin? In Brüssel? Oder noch in Erfurt, weil es da so schön war?
Schirdewan: Ja, ich fand es wirklich sehr schön in Erfurt. Aber ich bin jetzt weder in Erfurt noch in Berlin oder Brüssel, sondern gerade in Pamplona. Ich bin auf einer politischen Veranstaltung, unter anderem mit Jeremy Corbyn, und bin gestern spätabends hier angereist und muss da gleich hin.
Das heißt, Sie sind nach wie vor auf der Ebene der europäischen Linken unterwegs, auch in Ihrer neuen Funktion als Parteivorsitzender der Linken?
Das eine widerspricht dem anderen ja nicht. Ganz im Gegenteil. Ich sehe einen großen Vorteil darin, dass europapolitische Kompetenz und Erfahrung jetzt noch stärker als vorher in den Parteivorstand mit eingebracht werden können. Die nächsten bundesweiten Wahlen sind ja die Europawahlen, und wir tun gut daran, uns gemeinsam mit unseren internationalen Schwesterparteien und Verbündeten darauf vorzubereiten. Wir treten jetzt schon in einen intensiven Austausch. Das ist gut und hilft uns.
Der 46-Jährige hat an der FU Berlin Politikwissenschaft studiert und promoviert. Nach einem kurzen Abstecher als Redakteur beim Jugendmagazin des Neuen Deutschland wechselte er als Mitarbeiter in verschiedenen Funktionen zur Linken. 2017 rückte er als Ersatz für Fabio de Masi ins Europaparlament nach. Zwei Jahre später war er – zusammen mit Özlem Demirel – Spitzenkandidat seiner Partei für die Europawahl. Schirdewan ist Enkel des Widerstandskämpfers und ehemaligen Mitglieds des SED-Zentralkomitees und des Politbüros, Karl Schirdewan.
Das Europa-Engagement müssen Sie demnächst vermutlich herunterschrauben, oder?
Ich konzentriere mich natürlich auf den Parteivorsitz. Ich freue mich sehr, dass die Delegierten mir das Vertrauen ausgesprochen haben. Natürlich befindet sich die Linke in einer schwierigen Situation. Aber von dem Parteitag geht ein Signal des Aufbruchs und der Hoffnung, also wirklich ein positives Signal aus.
Ist das in dem Maß erfolgt, wie Sie es sich erhofft haben?
Ja. Wir haben uns inhaltlich und auch personell neu aufgestellt. Mit den klaren Mehrheiten auf dem Parteitag haben wir eine Kursbestimmung vorgenommen für die nächsten zwei Jahre. Und von daher konzentriere ich mich natürlich auch darauf, dem Vertrauen der Delegierten gerecht zu werden und den politischen Auftrag umzusetzen, der damit einhergeht. Andererseits, wie gesagt, ist meine europapolitische Erfahrung und Tätigkeit für die Partei ein Gewinn, weil die nächsten bundesweiten Wahlen die Europawahlen sind. Wir brauchen eine Trendwende, unsere jüngsten Wahlergebnisse waren ja nicht so stark, wie wir uns das gewünscht haben. Wir arbeiten daran, bei den vor uns liegenden Wahlen eine Trendwende hinzubekommen.
Kommen wir noch mal zurück zum Parteitag. Sie haben von klaren Mehrheiten gesprochen. Aber es ab auch viel Kritik, am Ukraine-Antrag und auch nach der Wiederwahl von Janine Wissler. Wie stark ist die innerparteiliche Opposition jetzt?
Wichtig ist erst mal, dass der Parteitag klare und eindeutige Entscheidungen gefällt und damit für Orientierung gesorgt hat. Und diese Orientierung erfolgte auf der Grundlage durchaus intensiver, teilweise auch kontroverser Diskussionen zu den Anträgen gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Antrag zur Ukraine war doch ein eindeutiges Signal, dass wir den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands verurteilen und gleichzeitig Solidarität mit der Ukraine bekunden.
Es gab da schon eine heftige Kontroverse, oder?
Ich finde es völlig legitim, dass wir uns auf dem Parteitag auch Zeit genommen haben, Sanktionen zu diskutieren. Ich persönlich befürworte massive Sanktionen gegen Putin und seinen Machtapparat, gezielte Sanktionen, um die Machtbasis im Inneren zu erschüttern. Ich finde es richtig, auch starke Sanktionen gegen den sogenannten militärisch-industriellen Komplex zu verhängen, um die Angriffsfähigkeit der russischen Armee zu schwächen. Wir wollen so starken wirtschaftlichen Druck ausüben, dass der Krieg schnellstmöglich beendet wird. Das ist das, was wir brauchen, das ist das Ziel: diesen Krieg zu beenden.
Auch über das Öl- und Gasembargo wurde heftig gestritten.
Aber das ist eine Diskussion, die in der Gesellschaft insgesamt gerade sehr intensiv geführt wird. Wenn man sich zum Beispiel die Region um Leuna ansieht, also die Industriestandorte dort, den Chemiestandort oder die Raffinerie in Schwedt. Oder wie abhängig die Glasindustrie in Thüringen von den Gasimporten ist, und da hängen 7000 Arbeitsplätze dran. Da muss man den betroffenen Regionen Perspektiven aufzeigen und für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort Jobgarantien aussprechen. Klar ist, dass die Energiewende von der Bundesregierung verpennt worden ist. Sonst wären wir jetzt nicht in dieser Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Daher muss man einerseits jetzt Mittel zur Verfügung stellen, um die Energiewende zu beschleunigen, und andererseits, um den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dort Perspektiven zu eröffnen und Jobgarantien zu geben. Das ist eine wichtige demokratische Debatte.
Warum schließt denn die Solidarität mit der Ukraine Waffenlieferungen nicht mit ein, wenn man ja auch schon glasklar festgestellt hat, dass das ein Angriffskrieg ist und die Ukraine sich verteidigt?
Bei Waffenlieferungen haben wir eine andere Position, und das ist auch richtig so. Waffenlieferungen treffen ja in der Bevölkerung auf eine sehr große Skepsis, weil mit Waffenlieferungen die Gefahr einer weiteren Eskalation des Krieges gegeben ist. Und die muss in jedem Falle verhindert werden. Es gab verschiedene Gutachten, auch des Deutschen Bundestages, die darauf hinweisen, dass das alles eine Grauzone ist. Wir warnen davor, in dieser Situation zum Kriegsteilnehmer zu werden. Deshalb bleiben wir bei unserer Ablehnung von Waffenlieferungen. Letztendlich glaube ich, müssen wir wieder zu einer Stärkung internationaler Institutionen gelangen. Wir brauchen Abrüstungspolitik und ein Verbot von Massenvernichtungswaffen, um eine neue Friedensordnung zu etablieren. Das ist die Lehre, die uns dieser Krieg mitgibt.
Die Parteispitze und die Fraktionsspitze müssen sich inhaltlich und kommunikativ enger abstimmen.
Wie wird künftig die Zusammenarbeit mit der Fraktion aussehen? Wollen Sie ein neues Format etablieren, wie man sich künftig besser abstimmt?
Zunächst mal betrachte ich das tatsächlich als Vorteil, die europapolitische Perspektive in die Parteiführung einzubringen und nicht Bestandteil der Bundestagsfraktion zu sein. Das gibt mir Möglichkeiten, moderierend in bestimmte Prozesse einzugreifen. Zusammenarbeit kann nur gelingen, indem man sich eng miteinander abstimmt. Die Parteispitze und die Fraktionsspitze müssen sich inhaltlich und kommunikativ enger abstimmen. Ich habe keinen Zweifel, dass uns das gelingt und dass uns das auch besser gelingt, als es in der jüngeren Vergangenheit der Fall war.
Haben Sie denn schon mit Sören Pellmann gesprochen, der auch kandidiert und gegen Sie unterlag? Er hat ja ziemlich schnell nach Ihrer Wahl erklärt, er überlege, was er demnächst macht. Das klingt nach Spaltung.
Als er mir gratuliert hat, haben wir kurz miteinander gesprochen, und auch Janine hat nach der Wahl mit ihm gesprochen. Wir sind in einem Austausch und wir werden uns dazu auch verständigen, wie wir weiter solidarisch miteinander arbeiten können. Der innerparteiliche Wahlkampf ist ja sehr solidarisch geführt worden, ohne persönliche Angriffe. Das war ein gutes Signal an die Partei. Und ich gehe davon aus, dass wir unsere Zusammenarbeit genauso fortsetzen, und sehe überhaupt kein Hindernis.
Hat Sahra Wagenknecht, die aus Krankheitsgründen am Parteitag nicht teilgenommen hat, Ihnen schon zu Ihrer Wahl gratuliert?
Ich fand es schade, dass sie an dem Parteitag nicht teilnehmen konnte, weil es gut gewesen wäre, dort miteinander zu diskutieren. Der Parteitag hat sich aber klar entschieden, wo die politischen Schwerpunkte der nächsten Zeit liegen. Ansonsten habe ich kein Problem, mit Sahra Wagenknecht politisch zusammenzuarbeiten.
Und wie war das nun mit der Gratulation?
Nein, nicht dass ich wüsste.
Gleich mal weiter zum Karl-Liebknecht-Haus. Haben Sie Ihr Büro in der Parteizentrale schon inspiziert?
Ja, ich war schon in meinem Büro. Das Karl-Liebknecht-Haus ist eine gut organisierte Parteizentrale mit hochmotivierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mit viel Schwung diesen Parteitag gestemmt haben und jetzt genauso weitermachen. Ich habe mich gleich am Montag nach dem Parteitag auf einer Mitarbeiterversammlung im Haus vorgestellt. Ich habe in meinem neuen Büro gearbeitet. Auf dem Schreibtisch steht eine Kaffeetasse mit Linke-Logo. Da schmeckt der Kaffee gleich doppelt so gut.
Ist also alles in Ordnung im Haus? Das hatte bisher nicht den Anschein.
Natürlich muss angesichts der Lage der Partei überall geschaut werden, was man verbessern kann. Es wurde schon seit der Bundestagswahl daran gearbeitet, welche Veränderungen in der Bundesgeschäftsstelle erforderlich sind, um die Arbeit unter erschwerten Bedingungen effizienter, zielgerichteter und erfolgreicher zu machen. Das fällt jetzt in die Zuständigkeit der neu gewählten Führung. Wir werden uns dazu verständigen.
Freuen Sie sich eigentlich, dass Sie jetzt mehr Zeit in Berlin verbringen können? Sie haben hier ja Ihren Hauptwohnsitz.
Ich bin ja ein Berliner Junge. Ich bin im Krankenhaus im Volkspark Friedrichshain geboren. Ich lebe 500 Meter entfernt von dem Platz, an dem ich geboren wurde. Ich werde in der gesamten Bundesrepublik unterwegs sein. Aber natürlich ist Berlin eine tolle Stadt zum Leben, also freue ich mich schon, dass ich wieder mehr hier sein kann.
Wie hat es Sie als Ost-Berliner eigentlich nach Thüringen verschlagen? Das ist ja seit vielen Jahren schon Ihr Landesverband.
Ich habe mich politisch auch in Berlin immer sehr wohlgefühlt und halte sehr viel vom Berliner Landesverband. Aber durch gemeinsame politische Praxis hat sich mein Schwerpunkt dann irgendwann stärker nach Thüringen verlagert. Und das hat dann konsequenterweise dazu geführt, dass ich irgendwann Mitglied des thüringischen Landesverbandes geworden bin. Ich betreibe dort Wahlkreisbüros, schon seitdem ich Europaabgeordneter bin.
Sie wohnen in Prenzlauer Berg. Wie hat sich der Stadtteil für Sie verändert?
Ich lebe schon sehr lange hier. Ich habe den Wandel im Prenzlauer Berg, die Gentrifizierung, miterlebt und gesehen, wie viele alte Mieterinnen und Mieter den Prenzlauer Berg wegen steigender Mieten verlassen mussten. Viele Menschen, die ich kenne, ächzen unter der Mietenentwicklung. Von daher ist ja auch einer der Schwerpunkte linker Politik in Berlin, genau diese Preisexplosion bei Mieten in den Griff zu kriegen.
Von wann ist denn Ihr Mietvertrag?
Der ist sehr alt, wie alt genau weiß ich nicht. Noch von vor der Sanierung des Hauses jedenfalls. Die fand schon vor fast 20 Jahren statt.