LNG-Terminal vor Rügen: Lars Klingbeil, Friedrich Merz und der saure Apfel
Was das neue „Deutschlandtempo“ bei ungeliebten Bauprojekten bedeutet, können die Menschen auf der Ostseeinsel gerade erleben. Eine Kolumne.

Es soll nun also bald alles mit „Deutschlandtempo“ vorangehen in diesem Land. Das sagte Lars Klingbeil, der Vorsitzende der SPD, in den Abendnachrichten im ZDF. Er sah müde aus, weil er gerade eine sehr lange politische Verhandlung hinter sich hatte, den Koalitionsausschuss. Deutschlandtempo, sagte Klingbeil, gebe es ja schon beim LNG-Ausbau.
Ich war auch müde, weil ich tagsüber wandern gewesen war, auf Rügen. Klingbeil weckte mich. Rügen erlebt gerade das neue Tempo, von dem er redete. Vor der Insel soll eins der Terminals gebaut werden, um Deutschland künftig mit LNG-Gas zu versorgen. Die Anwohner haben im Februar davon erfahren, Baubeginn sollte im Mai sein.
Nicht mehr über alles ewig reden. Das scheint die Idee hinter dem „Deutschlandtempo“. Nicht Einwände hin und her wälzen, sondern sofort losbauen. Das LNG-Terminal vor Rügen soll aus vier Schiffen, jedes 300 Meter lang und 50 Meter hoch, bestehen. Vier weitere Schiffe dieser Größe könnten zum Befüllen mit Gas anlegen. Acht Schiffe insgesamt. Das erklärte mir der Bürgermeister des Ostseebads Sellin, als ich ihn Anfang März anrief.
Das Terminal sollte direkt vor Sellin liegen. Man hätte es wohl auch von den Ostseebädern Baabe oder Binz im Blick. Vielleicht freuen sich ja Urlauber aus Berlin oder Bayern, wenn sie in Zukunft ihre Gasversorgung vom Badehandtuch aus beobachten können? Wird es eine Attraktion, die man sich so zum Beispiel vor Sylt überhaupt nicht vorstellen kann? Sylt, das war die Insel in der Nordsee, auf der sich die Leute vor dem Ansturm von Reisenden mit 9-Euro-Ticket gefürchtet hatten, es gab große Berichte in den deutschen Medien.

Das Ticket galt nur drei Monate, das Terminal soll bleiben. Der Bürgermeister von Sellin kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Urlauber auf eine Industrieanlage gucken wollen.
Reinhard Liedtke hat gleich im Februar an den Wirtschaftsminister geschrieben, der für den LNG-Ausbau zuständig ist. Er wollte Robert Habeck vor Ort die Lage erklären. Es wäre vielleicht auch eine Chance für den Minister gewesen, den Bürgern etwas zu erklären. Falls das beim Deutschlandtempo noch vorgesehen ist.
Merz: Bürger müssen hinnehmen, wenn solche Bauwerke entstehen
Habeck ist nicht gekommen, aber in der vergangenen Woche hat Liedtke erfahren, dass das Terminal nun eventuell doch nicht vor Sellin liegen soll. Es würden Alternativen geprüft. Das klingt verheißungsvoll, aber für Liedtke und seine Mitstreiter – zu denen alle Gemeindevertretungen von Rügen gehören – ist die Gefahr nicht gebannt. Als möglicher neuer Standort gilt die Ostsee vor Mukran. Da gibt es einen Hafen. Das passt doch?
Nach der Wanderung im Nationalpark Jasmund war ich nach Mukran gefahren, um mir die Gegend anzusehen. Vom Strand aus kann man bis zum Ostseebad Binz schauen. Und im Umkehrschluss wohl auch von Binz nach Mukran. Auf der anderen Seite von Mukran liegt Sassnitz. Es bliebe eine Anlage mitten im Urlaubergebiet.
Vor ein paar Tagen ist Liedtke nach Rostock gefahren, um dort Friedrich Merz von der CDU zu treffen. Den Oppositionsführer. Eine Hoffnung für Liedtkes Kampf. Merz war bei der Ostsee Zeitung eingeladen, die hinterher berichtete. Liedtke sagte zu Merz, wenn das Terminal vor Mukran gebaut würde, wäre das Problem nur verschoben. Merz sagte, er sei zur Lage vor Ort nicht ganz im Bilde. Aber: Bürger müssten hinnehmen, dass „solche Bauwerke“ entstehen. Die Moderatorin der Zeitung fragte nach. Merz antwortete: „Ja, das ist ein Appell an die Bürger, in den sauren Apfel zu beißen.“