„Mehr als eine Minderheitsmeinung“: Geht die Berliner SPD in die Opposition?
Nach der Wahlschlappe muss sich die SPD entscheiden: Hält sie an der Macht fest oder nicht? Geht sie in die Opposition, wird es eng für Parteichefin Giffey.

Dass Opposition Mist sei, ist eine dieser Phrasen, die nach Wahlen oft bemüht, aber unterschiedlich gedeutet werden können. Mist für was eigentlich? Für die politische Gestaltungskraft? Oder für die Zukunft der eigenen Partei?
Als der gerade gewählte SPD-Chef Franz Müntefering diesen Satz im Jahr 2004 prägte, ging es ihm um Gestaltung. „Opposition ist Mist. Lasst das die anderen machen, wir wollen regieren“, sagte er auf einem Parteitag in Berlin. Und genau dort, in der Hauptstadt, stehen die Sozialdemokraten nach der herben Niederlage bei der Abgeordnetenhauswahl erneut vor der Frage, ob sie an der Macht festhalten sollen oder nicht.
Die Frage lautet: Wählt die SPD den Machterhalt, also eine Fortsetzung von Rot-Grün-Rot oder ein Bündnis mit der CDU? Oder will sie zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren in die Opposition gehen?
Bislang haben sich wenige Genossen aus der Deckung gewagt und das O-Wort überhaupt nur in den Mund genommen. Am Wochenende war es Co-Parteichef Raed Saleh, der eine Oppositionsrolle der SPD immerhin nicht ausschließen wollte. „Ich würde auch nicht wie ein großer Sozialdemokrat sagen, dass Opposition Mist ist“, sagte Saleh der Berliner Morgenpost. Da war er wieder, der Bezug auf Müntefering.
Einzelne, weniger exponierte Genossen spielten ebenfalls öffentlich mit dem Gedanken. Mal mehr, mal weniger deutlich. Seine Partei solle keine Angst vor der Opposition haben, sagte der direkt gewählte Abgeordnete Orkan Özdemir aus Friedenau dem Tagesspiegel. Ähnlich äußerte sich die ehemalige Staatssekretärin Sawsan Chebli. Der frühere Bausenator Wolfgang Nagel sprach sich für eine „ernsthafte“ Diskussion darüber aus.
SPD-Abgeordneter Özdemir: Regieren ist kein Selbstzweck
„Ich bin positiv überrascht von der Nüchternheit in der Partei“, sagt Özdemir der Berliner Zeitung. Die SPD wolle regieren, weil sie gestalten wolle. „Regieren ist jedoch kein Selbstzweck.“ Er beschreibt die Stimmung unter den Genossen so: Wenn die Partei weiter an der Macht bleibe, „dann nur, wenn wirklich absehbar ist, dass wir die drängenden Probleme dieser Stadt mit den potenziellen Koalitionspartnerinnen konkret angehen können“.
Özdemir meint: „Allen ist jedoch auch bewusst: Eine starke Opposition ist lebenswichtig für eine funktionierende Demokratie.“
Was Özdemir als Voraussetzung für eine Koalition nennt – das Angehen der drängenden Probleme – hängt von den Gesprächen mit CDU und Grünen ab. Die Christdemokraten haben die Wahl zwar deutlich gewonnen, dürften auf der Suche nach Kompromissen aber flexibel sein. Sie wollen endlich ins Rote Rathaus.
Die Grünen wiederum werden selbstbewusst in die Sondierungsgespräche mit der SPD gehen. Immerhin lagen sie mit 18,4 Prozent gleichauf mit den Sozialdemokraten. Das würde wohl die Verteilung von Senatsposten betreffen, aber auch die inhaltliche Ausrichtung eines Linksbündnisses. Sollten die Grünen der SPD viel abverlangen, bekäme die Oppositionsfrage neues Gewicht.
Regierung oder Opposition: Partei „so vielstimmig“ wie nie
Der Wunsch nach dem Gang in die Opposition sei in der Partei „mehr als eine Minderheitsmeinung“, sagt ein SPD-Abgeordneter der Berliner Zeitung. Davon abgesehen, dass eine Koalition mit der CDU wenige Befürworter finde, sehnten sich viele nach einer Auszeit vom Regieren – um sich auf die Partei besinnen zu können, das eigene Profil zu schärfen. Münzt man Münteferings Zitat auf diese Weise um, ist Opposition alles andere als Mist. Eher eine Chance.
Der Abgeordnete spricht von einem „Zielkonflikt“, in dem sich die SPD gerade befinde: Einerseits sei klar, dass nach der Wahlschlappe kein Stein auf dem anderen bleiben dürfe. Andererseits führe man nun Sondierungsgespräche über ein mögliches Regierungsbündnis.
Dafür braucht es einen klaren Kurs, etwas, worauf sich potenzielle Koalitionspartner einstellen können. Wofür steht die SPD in den kommenden Jahren? Tickt sie eher links, also im Sinne der Basis? Oder bleibt es beim Mitte-Kurs, den die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey verfolgte? Bei einer Partei, die sich einem grundlegenden Wandel verschrieben hat, ist das schwer auszumachen.
Der SPD-Abgeordnete meint: Gehen die Sozialdemokraten in die Opposition, sind nicht nur die Tage von Giffey als Landeschefin gezählt. Auch Co-Vorsitzender Saleh würde wackeln, sagt er und verweist auf die schwachen Ergebnisse der Doppelspitze beim Landesparteitag 2022.
Umso mehr irritiere ihn, dass Giffey sich hinter den Kulissen und im Austausch mit Grünen offenbar gegen die Enteignung von Immobilienkonzernen und für den Ausbau der A100 ausspreche. Gerade in diesen Punkten läge sie mit Grünen und Linken nämlich über Kreuz. Mit den Parteien also, die sie braucht, um Regierungschefin zu bleiben.
Ein anderer Abgeordneter sagt, die Mehrheit der Fraktion sei für eine Koalitionsbeteiligung. Wer denn sonst regieren könne, fragt er und spricht einem Bündnis von CDU und Grünen die Kompromissfähigkeit ab. Allerdings gilt auch hier: Die Christdemokraten wollen regieren. Im Interview mit der Berliner Zeitung zeigte CDU-Chef Kai Wegner durchaus Sympathien für Schwarz-Grün.
Eine Genossin aus der Kommunalpolitik sagt: Die SPD sei „sehr geteilt“ nach der Abgeordnetenhauswahl, „so vielstimmig war es noch nie“. An der Basis würden alle Optionen diskutiert, ob Rot-Grün-Rot, Schwarz-Rot oder Opposition. Eine Mehrheit gegen Franziska Giffey könne sie dabei übrigens nicht erkennen. Sobald das Thema aufkomme, erwidere sie: „Wen haben wir denn sonst noch in petto?“