Mehr Psycho-Krankheiten: Berlins Maßregelvollzug soll erweitert werden
Das Krankenhaus in Reinickendorf ist überbelegt – auch wegen Patienten, die gar nicht dort sein sollten.

Ein schwer kriminelles Mitglied des Remmo-Clans musste in die Freiheit entlassen werden. Der Mann war wegen eines Überfalls auf einen Geldtransporter auf dem Kurfürstendamm und wegen anderer Straftaten zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Auch ein Drogenhändler, der sechs Jahre bekam, läuft jetzt frei herum.
Beiden Fällen ist gemeinsam, dass die Kriminellen wegen ihrer Drogensucht im Maßregelvollzug einen Entzug machen sollten. Doch weil das Krankenhaus des Maßregelvollzugs keine freien Plätze für die beiden hatte, ordnete das Berliner Landgericht ihre Freilassung an.
In den Maßregelvollzug kommen Straftäter, wenn ein Gericht sie als psychiatrisch auffällig oder suchtkrank einstuft. „Wir sind mit den Maßnahmen, die man kurzfristig im laufenden Betrieb machen kann, am Ende“, sagte Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne) am Dienstag nach der Senatssitzung.
Zahl der Psycho-Krankheiten durch Drogen angestiegen
Nach ihren Angaben ist der Maßregelvollzug mit 602 Patienten überbelegt. Genehmigt seien nur 541 Betten. „Das ist in Berlin und auch in vielen anderen Bundesländern eine sehr kritische Situation“, so Gote. Mit „Maßnahmen im laufenden Betrieb“ meint Gote unter anderem Veränderungen bei der Arbeitsorganisation und bei den Schichtplänen sowie aktuelle Einstellungsverfahren für 30 Pflegekräfte.
Zu den 602 stationär in Reinickendorf und am Standort Berlin-Buch untergebrachten Patienten kommen weitere rund 200, die in Sondereinrichtungen des Krankenhauses oder in Einrichtungen des ambulanten dazugehörigen Versorgungssystems untergebracht sind.
Die Gesamtzahl dieser Patienten im Maßregelvollzug nimmt seit Jahren kontinuierlich zu: Waren es im Jahr 2016 noch 689, so waren es im November vergangenen Jahres schon 812. Als Ursachen dafür sehen Ärzte zum einen die Corona-Pandemie und den damit verbundenen Wegfall von Betreuungsmöglichkeiten. Zum anderen habe die Zahl der durch Drogen verursachten psychiatrischen Krankheiten rapide zugenommen.
Senat sucht einen weiteren Standort für den Maßregelvollzug
Weil die „Maßnahmen aus dem laufenden Betrieb“ nicht ausreichen, verständigte sich der Berliner Senat am Dienstag darauf, bis Ende Juni eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe zu bilden, die einen „Masterplan“ mit kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen erarbeiten soll.

So sollen im Mai zwölf weitere Plätze im Haus 4 auf dem Gelände der Einrichtung in Reinickendorf in Betrieb genommen werden. Die Gesundheitsverwaltung will außerdem ein weiteres Gebäude ausbauen. Im Haus 8 sollen 60 weitere Plätze entstehen. Kosten: 53 Millionen Euro, Bauzeit: fünf Jahre. Zudem sollen in Berlin weitere geeignete Immobilien gefunden werden, die kurzfristig genutzt werden können, um eine Entlastung zu erreichen. „Da gibt es einige Objekte, die man sich angucken kann“, sagt Gote, ohne genauer zu werden. So eine Einrichtung als Teil des Maßregelvollzugs müsste durch Mauern und Zäune geschützt sein – wie in Reinickendorf und Buch.
Auch wenn es in Berlin bisher nur zwei Entlassungsfälle gab: Nach Angaben der Staatsanwaltschaft warten derzeit 16 Verurteilte auf eine Entzugstherapie im Maßregelvollzug. Diese sitzen zunächst in einem sogenannten Vorweg-Vollzug und kommen dann in die sogenannte Organisationshaft. Bei dieser Haftform in einem normalen Gefängnis müssen Suchtkranke warten, bis ein Therapieplatz im Maßregelvollzug frei ist. Die Organisationshaft soll aber auf sechs Wochen begrenzt sein.
Schlupfloch für Kriminelle
Bundesweit ist die Situation zum Teil noch kritischer. So gab es in Baden-Württemberg rund 30 Entlassungen, weil Therapieplätze fehlten. Fast alle Bundesländer klagen darüber, dass die Zuweisungen für drogenabhängige Straftäter durch die Gerichte in den vergangenen Jahren enorm gewachsen sind. Denn inzwischen benutzen Kriminelle und manche Strafverteidiger den Paragrafen 64 des Strafgesetzbuches als Schlupfloch, indem sie dem Gericht erzählen, dass ihre Mandanten einen „Hang zur Sucht“ hätten und die Tat deshalb begangen worden sei. Im Maßregelvollzug soll es sich nämlich angenehmer leben als in einer Haftanstalt. Zudem kann der Straftäter – bei erfolgreicher Entzugstherapie – schon nach der Hälfte der zu verbüßenden Haftstrafe einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen. In einer normalen Haftanstalt geht das erst nach zwei Dritteln.
Bund und Länder arbeiten deshalb seit längerer Zeit an einer Änderung des Paragrafen 64. Unter anderem soll präzisiert werden, was ein „Hang zur Sucht“ ist, und klarer definiert werden, wann eine Straftat mit der Drogensucht des Täters zusammenhängt. Geschah die Tat, weil er drogenabhängig war – oder ist der Täter zufällig auch drogenabhängig?
Nach Überzeugung vieler Ärzte sind viele nach Paragraf 64 Eingewiesene im Maßregelvollzug falsch und könnten auch in einer Justizvollzugsanstalt therapiert werden. Im Bundesrat wurde der Gesetzentwurf in diesem Monat abgesegnet. Die Länder erhoffen sich dadurch eine Entlastung bei den Belegungszahlen.